Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von 
Friedrich Goldmann 

Das Buch erschien 2014 im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad

Nachfolgend einige Auszüge mit Seitenzahlen, Abbildungen und Notenbeispielen, die auf das Buch verweisen.

Annäherung 5 (S. 228-267)

Führung - Hierarchie - Herrschaft - Macht

(S. 230) Im fünften und letzten Kapitel wollen wir uns mit Überordnungs- respektive Unterordnungsverhältnissen beschäftigen, wie sie in den Worten „Führung“, „Herrschaft“, „Überlegenheit“, „Macht“, „Verfügungsgewalt“ oder „Hierarchie“ zum Ausdruck kommen. Die Hinwendung zu diesem Kapitel ist angeregt von Goldmann selbst. In seinem Salut für die Leipziger Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ schreibt Goldmann: „Noch gegen Ende der 60er Jahre war die Situation für jene Komponisten dieses Landes [DDR] höchst ungünstig, die es als notwendig erachteten, ausgefahrene Gleise zu verlassen und sich ernsthaft auch mit dem auseinanderzusetzen, was sich anderswo längst als entwicklungsbestimmend erwiesen hatte. Ungünstig dabei war nicht nur der allgemeine kulturpolitische Horizont, sondern auch der empfindliche Mangel an kompetenten Interpreten.“ (Glaetzner/Kontressowitz 1990, Spielhorizonte. Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« 1979-1990, Leipzig, S. 18) Und weiter: „Dirigenten entwickeln in aller Regel Herrschaftsgelüste, so dass Ensembles, die sich von traditionellen Herrschaftsstrukturen zu emanzipieren trachten, gut daran tun, die Verfügungsgewalt von Dirigenten zu beschneiden und mehr Gleichberechtigung zu praktizieren (demokratische Strukturen vertragen sich nicht ohne weiteres mit Chef-Positionen bzw. -Ambitionen).“ (ebenda, S. 19) Für die Gruppe Neue Musik »Hanns-Eisler« seien wechselnde Verhältnisse das Normale. „Nicht in jedem Falle werden dabei Hierarchien abgebaut oder gar außer Kraft gesetzt, wohl aber werden sie – zwangsläufig – in Bewegung gebracht.“ (ebenda) Goldmann spricht davon, dass man „den Umgang mit wechselnden Hierarchien“ üben müsse, er sei ein „notwendiges Training in Sachen Demokratie“. Es sind eben derartige Äußerungen, die uns glauben lassen, dass Goldmann sich mit gesellschaftspolitischen und soziologischen Fragen intensiv beschäftigt hat.

(S. 231) Max Weber unterscheidet drei reine Typen legitimer Herrschaft: den rationalen Charakters, den traditionalen Charakters sowie den charismatischen Charakters, dessen Legitimität unter anderem auf die „Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“ beruhen (Weber 2010, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt/M., Lizenzausgabe 2010, S. 159). Oder wenn wir den Konzertsolisten ins Blickfeld nehmen, der sich mit seinen außergewöhnlichen Leistungen und Fähigkeiten Respekt bei den Solisten-Kollegen verschafft, vor allem aber beim Orchester, der Gemeinschaft. Sein Ziel ist die Demonstration seiner Überlegenheit, die ihm eine Führungsrolle einräumt, wobei jede Führung sich auf die Autorität berufen können muss. (D. Baecker 2009, Die Sache mit der Führung. Wien, S. 21) „Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens … in Vorbildlichkeit … gehorcht.“ (Weber 2010, S. 159) „Charisma ist der Grenzfall der Autorität, weil sich die Rückfragen nicht mehr stellen, auf die man angesichts von Autorität verzichten muss.“ (Baecker 2009, S. 42f.)

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass im ersten Satz des Oboenkonzertes die Oboe das musikalische Geschehen und den Ablauf weitgehend bestimmt; „das Orchester nimmt auf, führt weiter, gibt seinerseits Neuformulierungen, die dann auf die Oboe zurückwirken.“ (Goldmann 1979, im Programmheft der Komischen Oper, Interview von Frank Schneider mit F. Goldmann, Berlin) Diese Dominanz hat dann auch wohl folgerichtig den Komponisten veranlasst, die traditionelle große Kadenz im ersten Satz einzubauen. „Zu Beginn exponiert sich der Solist mit durchaus konventionellen Techniken und Spielweisen – allenfalls werden bestimmte Flageolett-Klänge ausgenutzt. Denn zunächst ist die Differenzierung im strukturell primären Bereich, also im klanglich engeren Sinne, ausgearbeitet.“ (Goldmann 1979)
(S. 232) Goldmann selbst bezeichnet die Komposition als „eine Art Oboenkonzert“ und sagt: „obwohl möglicherweise irreführend, könnte man das Stück »sinfonisch« nennen, da es nicht einfach die traditionelle Konzertform benutzt.“ (Goldmann 1979) Vielleicht ist dies ein Hinweis auf die unterschiedliche Handlungs-Konzeption der beiden Sätze. Wie ein Sozialarbeiter kämpft der Solist im ersten Satz des Oboenkonzertes kraft seiner charismatischen Führungsrolle mit psychologischen und physischen Mitteln sozusagen um die Sozialisation der Stimmen und Gruppen des Orchesters, während im zweiten Satz der Konflikt Individuum – Gemeinschaft mit unterschiedlichen Strategien ausgetragen wird. „Das Verhältnis der beiden Sätze zueinander ist antithetisch, wofür aber der Tempokontrast andante – allegro nur ein Indiz ist.“(ebenda)

(S. 233) Der Solist, wir erinnern uns an den ersten Satz des Oboenkonzertes, steigt im Takt 49 (vgl. Annäherung 1) überraschend zum c3 auf und macht damit den Weg frei für die Violinen, im Takt 73 dann auch für die Holzbläser (Flöten, Oboen). Trotz virtuosester Begleitung (T. 91ff., pp) der ersten Orchester-Oboe mit ihrem kontingenten Thema (f) durch den Solisten, verbleibt das Orchester eher im Statischen (Akkordischen), erst ein weiteres Solo ab T. 107 löst dieses statische Verhalten und evoziert nun ab Takt 119 eine zunehmende „Bewegungsintensität“. Mit der nachfolgenden Raumerweiterung im Takt 135 und dem dann folgenden Solo demonstriert der Solist seine Überlegenheit und rechtfertigt damit auch seinen Führungsanspruch als Solist. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten (S. 234) ermöglichen ihm, in die obere Grenzregion seines Instruments vorzustoßen. Erst diese überragende physische und mentale Leistung überzeugt offenbar die Gemeinschaft, das Orchester, ihm in wenn auch sehr unterschiedlicher Weise zu folgen. Der Solist als Vor-Spieler, als Vor-Denker ist bei Goldmann also keiner, der – wie Canetti seinen Dirigenten schildert – „Macht über Leben und Tod der Stimmen“ hat (E. Canetti 2006, Masse und Macht, Hildesheim 1960, Lizenzausgabe Frankfurt/M.). Die Macht des Solisten ist eine andere. Mit seinen Handlungen beweist er sich als „Subjekt-das-kann“ (Sloterdijk 2010, Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, Berlin, S. 16), gewissermaßen als das Ergebnis von Begabung, Fleiß und Übung und ist damit konditioniert zu seiner „Könnensverfassung“ (Sloterdijk 2010, S. 16f.), die man gemeinhin „als Habitus, Tugend, Virtuosität, Kompetenz, Exzellenz oder Fitness“ bezeichnet.
War es im ersten Satz des Oboenkonzertes gewissermaßen die messianische Botschaft des Solisten von den vielfältigen Seinsmöglichkeiten, die es auf eine Masse zu transferieren galt, so sind die Situationen im zweiten Satz deutlich andere. Das Verhältnis kehrt sich gewissermaßen um: „die entscheidenden Aktionen gehen vom Orchester aus, in das sich die Oboe einblendet, ihrerseits den großen Apparat zu verändertem Verhalten nötigt. Es handelt sich also in den beiden Sätzen um ein polares Aktions-Reaktions-Verhalten zwischen den konzertierenden Parteien“ (Goldmann 1979), was beim Hören durchaus spürbar wird. Dennoch, die Dominanz, der beherrschende Part, verbleibt natürlich auch im zweiten Satz bei der Solo-Oboe, deren Entfaltung freilich über Teilstrecken aufgrund des Widerstandes vom Orchester, der Gemeinschaft, offenbar nur mit aggressiven (Spalt-)Klängen möglich ist. Doch selbst in dieser deformierten Klangwelt – fast ausschließlich in den sieben Allegro-Abschnitten – bleibt der Solist noch das „Subjekt-das-kann“ und zwar mehr als die Masse der Gemeinschaft.

Den „großen Apparat“ teilt Goldmann, wie schon im ersten Satz (vgl. Annäherung I Ansätze einer Gruppendynamik), a priori in fünf Gruppen, die sich in ihrem statischen respektive dynamischen Verhalten deutlich unterscheiden, jedoch nun im zweiten Satz keine gruppendynamische Relevanz aufweisen. (S. 237) Der zweite Satz baut seine Formteile Allegro und Allegro molto gewissermaßen um das Lento herum (vgl. Abb. 2, S. 231), das von den insgesamt 612 Takten des zweiten Satzes 50 Takte einnimmt und in seiner wundersamen Abgeklärtheit und spannungsvollen Ergriffenheit an Eichendorffs Gedicht Mondnacht erinnert. Es ist eine Reminiszenz an den ersten Satz, der Solist dialogisiert mit Gruppen von 2, 3, 4, 5, 6 Instrumenten, wobei Schlagzeug 1 und 2 (Vibraphon und Marimbaphon) die auffälligste Dialog-Gruppe bilden im Hinblick auf die Verwendung des kontingenten Themas. Auch hier obwaltet in der Solo-Oboe und fragmentarisch auch im Schlagzeug natürlich die arithmetische Zahlenfolge 1-5 sowohl in den Dauern der Hauptnoten wie in der Zahl der Vorschlagnoten. Es folgen sechs Variationen von Solo-Oboe und 2 Schlagzeugen (Vibr., Mar.) im Lento-Abschnitt (T. 331-380). (S. 241) Goldmann gestaltet die unterschiedlichen Klangfelder im Lento-Abschnitt so, dass die Dialoggruppen sich partiell überlagern, wodurch aufgrund ihrer Verwandtschaft eine Vereinheitlichung, ein tektonisches Ganzes entsteht. Wesentlich tragen die 3 Trompeten und die drei Posaunen zu einer ineinandergreifenden Raumtektonik bei.

(S. 247) Da wir uns hier nicht mit der politischen Macht beschäftigen (vgl. hierzu Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 3: Dokumente aus den siebziger Jahren, hrsg. von U. Dibelius und F. Schneider, Berlin 1997), sondern vor allem die charismatische Herrschaftsform im Auge haben, gelten unsere Analysen primär dem Aspekt der Macht- bzw. der Herrschaftsbeziehungen, ihren großen Strategien wie ihren Mikrobeziehungen. Wir konzentrieren uns auf die gegenseitigen Beziehungen der Subjekte sowie auf die Beziehungen zwischen dem Subjekt, dem Solisten und der Gemeinschaft, also auf die Beziehungen zu den Gruppen und zum Orchester; denn „Führung erfordert Kommunikation“. (Baecker 2009, S. 24)

(S. 255) Allegro – Lento – Allegro scheint auf den ersten Blick eine klare dreiteilige Bogenform zu sein. Bei genauerem Betrachten ist die Form deutlich kleingliedriger. Die Allegro-Abschnitte unterscheiden sich nicht nur durch die Tempobezeichnungen Allegro und Allegro molto voneinander, sondern sie sind – der filmischen Schnitttechnik mit abruptem Szenenwechsel nicht unähnlich – vor allem vom Charakter her grundverschieden. So stehen z. B. die Allegro-Abschnitte konsequent im 4/4-Takt und basieren in ihrem siebenmaligen Erscheinen auf einem nach bestimmten Intervallprinzipien konstruierten Akkord. Die vier Formteile im Allegro molto stehen konsequent im 3/4-Takt und bilden im Wesentlichen eine Abfolge von konzertierenden Variationen, verteilt auf unterschiedliche Instrumente beziehungsweise kleine Instrumentengruppen. Das relativ kurze Allegro (1) gründet die Vertikale auf einen verminderten Akkord in der oberen Lage und vier Sekundklängen in der mittleren und tiefen Lage (vgl. NB 24). Es entfaltet einen diffusen Klang, einer Lichtbrechung an rauer Oberfläche gleich, dessen Feinstruktur man erst durch konzentriertes Hören gewahr wird, etwa die permanent variierten Rhythmen im Schlagzeug, die kanonisch einsetzenden Rhythmen in den Streichern, die unschlüssigen Sekundbewegungen in den tiefen Holzbläsern oder das Funkeln der Spitzentöne in den Flöten, der 1. Oboe und besonders den Flageoletttönen der ersten Violinen. Der Solist findet lange Zeit keinen Einstieg in diese konturschwache Masse, keine Anhaltspunkte für eine Kontaktnahme, keine Aufforderung zur Kommunikation. Lautstark mischt er sich dann aber doch – charismatisch, wie wir ihn im ersten Satz kennengelernt haben – im Takt 41 mit expressiven Spaltklängen ein, permanent im ff; das Orchester zieht sich zurück.

(S. 256) – Schnitt und „Szenenwechsel“ – 3/4-Takt
Die „Oboenfamilie“ (Solo-Oboe und zwei Orchester-Oboen) musiziert – begleitet von einem leicht changierenden Repetitions-Akkord der vier Hörner – in geradezu idealtypischer, vertrauter Gemeinsamkeit im Allegro molto (I) mit großem Bogen und weitgespreizten Intervallen aus dem Modus a-h-c-d-es-f-(ges)-as, der am Ende der Passage in den beiden Orchesteroboen in enger Lage erklingt. Der Solist verzichtet in diesem Dialog nicht auf seine virtuosen Fiorituren. – Schnitt und „Szenenwechsel“ – 4/4-Takt
Wie ein glücklicher Jubelnachklang vom vorangegangenen Intermezzo erklingt der natürliche forte-Einsatz der Solo-Oboe im Takt 70 auf dem a3 über der fahlen Fläche des Orchesterklanges (vgl. NB 24) zu Beginn des Allegro (2). Doch wieder sieht sich der Solist einem diffusen pp-Streuklanggebilde gegenüber, dem er auch in dieser kurzen Episode in den Takten 81-87 mit Spaltklängen im ff begegnet.
– Schnitt und „Szenenwechsel“ – 3/4-Takt
Im folgenden Allegro molto (II) wiederholt sich das einvernehmliche Musizieren in der „Oboenfamilie“ (vgl. NB 30, T. 88-96), begleitet wiederum von vier Hörnern, die mit ihrem Repetitionsakkord (des1-es1-e1-ges1) auch die folgende, in ihrer Linienführung krebsgängige Variation in den Violinen 1 und 2 (vgl. NB 31, T. 96-102), begleiten. Nach einem kurzen, fanfarenartigen Einwurf der Blechbläser konzertiert noch einmal die „Oboenfamilie“ im nachfolgenden Wechsel mit den Blechbläsern, bevor Flöte und Klarinette 1 eine Harmonisierung mit dem Solisten andeuten (vgl. NB 33), wobei der charismatische Solist genregemäß mit virtuosen Spielfiguren brilliert. Allegro molto II und IV korrespondieren nicht nur von der Dauer her (beide 3 Min.), sondern auch von der Vielfalt der Kombinationen der konzertierenden Instrumente. Was auf den ersten Blick und beim ersten Hören wie ein unbeschwertes Konzertieren anmutet, wird bei näherer Betrachtung deutlich, nämlich dass nicht mehr der Solist a priori dominiert, sondern er sich vielmehr mit eleganten und virtuosen Umspielungen den kontingent-thematischen Vorgaben der Orchesterinstrumente zuordnet.
Die Allegro molto-Abschnitte sind der Raum des traditionellen Konzertierens, auch wenn die Harmonisierung, das Aufeinander-abgestimmt-sein zunehmend stärker nun nicht mehr von der Führungsrolle des Solisten auszugehen scheint, sondern mehr und mehr das Orchester die dominierende Instanz wird und der Solist lediglich mit virtuosem Figurenwerk sein hierarchisches Gebaren aufrecht zu erhalten sucht. Die mehrfache Übernahme des kontingent-thematischen Materials durch die Violinen (T. 96) während der Solist schweigt, die wiederholten, massiven fanfarenartigen Einbrüche der Blechbläser, die allesamt am kontingent-thematischen Geschehen im II. Allegro molto teilhaben, grenzen den Kompetenzbereich des Solisten stark ein und verändern die für den Solisten zunehmend prekäre Situation in geradezu restriktiver Weise, so dass ihm mit dem massiven Einsatz des Orchesters (T. 247) wieder nur die expressive Ausdrucksweise des Spaltklangs bleibt, die er dann im folgenden dritten Allegro und ebenso im fünften Allegro wie auch in den senza misura-Abschnitten beibehält.

(S. 257) „Überhaupt scheint das Austragen des widerspruchsvollen Spannungsverhältnisses zwischen subjektiv geprägter Ausdrucksvorstellung und vorgegebenen genrespezifischen Musizierkonventionen im Zeichen schöpferischer Autorität des Komponisten erneut Grundimpuls und durchgeführtes »Thema« dieser Konzertkonzeption zu sein.“ Goldmanns Versuch einer Lösung in Richtung „einer logisch stimmigen und sinnlich produktiven“ nivelliert diese Dialektik nicht, sondern macht sie „als formales wie expressives Spannungsmoment der Rezeption unmittelbar erfahrbar“, vorausgesetzt natürlich, Goldmann hält „die wesentlichen Gattungscharakteristika in der aktuellen Problematisierung noch für tragfähig“ (Schneider 1984, Schallplattentext zum Konzert für Oboe und Orchester von Friedrich Goldmann, NOVA 8 85226, VEB Deutsche Schallplatten Berlin), was im Oboenkonzert ganz offensichtlich der Fall ist.
Die einer europäischen Tradition verpflichtete große Bogenform (A-B-A1) des II. Satzes zeigt in den Außenteilen deutliche Unterschiede, die in den Allegro molto-Abschnitten gewissermaßen als traditionelles, kammermusikalisches Konzertieren wahrnehmbar werden, während die Allegro-Abschnitte in eher avancierter Moderne die dialektisch-sinfonische Form der Auseinandersetzung zwischen dem Individuum, dem Solisten, und der Gemeinschaft, dem Orchester, wählen. Die wirklichen Spannungen liegen also nicht in den Allegro molto-Abschnitten, sondern in den Allegro-Abschnitten; entsprechend größer sind deshalb auch deren Zeitfenster, die – besser als die Taktzahl-Proportionen A = 330 Takte, B = 80 Takte und A1 = 232 Takte – die wahrnehmbaren Verhältnisse ausdrücken (vgl. im Buch Abb. 4, S. 257). Die Konfrontationen in den folgenden Allegro molto-Abschnitten zwischen dem Solisten und dem Orchester beziehungsweise Gruppen desselben sind – wenn man so will – die aktiven Auseinandersetzungen zwischen Individuum und Gemeinschaft …, während in den Allegro-Abschnitten eher die gesellschaftlichen Institutionen – das Regelwerk jeder Gemeinschaft – die ordnende, regulierende wie auch restriktive Funktion innehaben.
Uns interessiert nachfolgend weniger das scheinbar einvernehmliche, harmonisierte Konzertieren in den Allegro molto-Teilen als vielmehr das Geschehen in den sinfonisch-dramatischen Allegro-Teilen, wenngleich wohl eben genau dieser Kontrast, diese Schnitttechnik das Spannungsfeld des Sinfonischen in den Allegro-Teilen aufrechterhält.
Der Komponist präsentiert als synthetische Raumordnungsmacht im Spiel des Komponierens zwei sozialpolitische Welten im orchestralen Spannungsfeld von aufgedehntem Containerraum in den Allegro-Abschnitten, der sich in den Verortungen der Intervalle (Klänge) nur geringfügig und auch nur scheinbar verändert, da die Kontrollinstanzen jeweils Fixpunkte des Modus’ sind, und dem freien, harmonisierten Handlungsraum in den Allegro molto-Abschnitten, der im Akt des Konzertierens entsteht. Und eben dieser Grad der Übereinstimmung von Solist und Orchester definiert möglicherweise die kommunikative Relevanz des Raumes, während jener Containerraum gewissermaßen als eine ‚institutionelle Macht’ fungiert. Juridisch sanktionierten, gesellschaftlichen Institutionen gleich kontrollieren im Allegro-Abschnitt die Intervalle an Fixpunkten den Modus und konstituieren gleichzeitig einen Handlungsmachtraum, der in seiner Omnipräsenz restriktiv auf den Solisten wirkt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den mehrfachen Wechsel mit den Allegro molto-Abschnitten, so ließe sich die anfängliche Omnipotenz des Solisten durchaus noch als demokratische Leitinstanz deuten.



NB 47: Oboenkonzert, 2. Satz, erster Einsatz der Solo-Oboe, T. 41 (S. 263)


(S. 264) Wie der Ausbruch einer inneren Aggression, ein von innerer Unruhe getriebenes Aufbegehren, klingt der erste Einsatz des Solisten im T. 41. Er zieht die Aufmerksamkeit durch äußerste Virtuosität und bis dahin ungehörte (Spalt-)Klänge im ff auf sich. Teile des Orchesters ziehen sich zurück. Es ist nur ein relativ kurzer erster Auftritt des Solisten, aggressiv und in selbstentfremdeter Klanglichkeit. Es ist weniger ein Innehalten des Orchesters im Akkord als vielmehr das weitgehend Verhaltens-Statische eines institutionellen Machtapparates, das die beiden ersten Allegro-Abschnitte prägt. Uns interessiert in diesem ersten und in den weiteren Allegro-Abschnitten das Verhalten des Solisten; akzeptiert er die Kontrollinstanz der Intervalle des Orchester-Modus’ oder durchbricht er sie kraft seiner exponierten, charismatischen Führungsrolle, die er zweifelsohne im ersten Satz eingenommen hat. Bleibt er in der Hierarchie die dominierende Persönlichkeit oder zwingen ihn die Bedingungen zu einem veränderten Verhalten. Schneider spricht in seiner Analyse von 1980 zurückhaltend davon, dass Goldmann „nichts programmatisch Verdinglichtes sagen … will, sondern in der poetischen Beschwörung musikalisch definierter Strukturbeziehungen, Kommunikations-Situationen und Intonationsmuster einen zweiteiligen zusammenhängenden Klangprozess ausformt, dessen Prägnanz assoziative Gefühlserlebnisse provozieren kann,“ dass sich „des Autors wirkliche Weltbeziehung ohne zusätzliche Quellen kaum sinnvoller erschließen lässt, als dies bei aller anderen »bedeutenden« Musik auch der Fall ist.“ (Schneider 1980, Fünf Gesichtspunkte zum Konzert für Oboe und Orchester von Friedrich Goldmann. In: Musik und Gesellschaft, Heft 6, Berlin, S. 331)
Es ist nicht zu erwarten, dass der Solist die juridische Institution, das kompositorische Gesetz, für seinen Part negiert und die Modalität von Ganzton-Halbtonfolge in Frage stellen würde. Aber auffällig ist im ersten Allegro die veränderte Bildung von Quartspannungen, Tetrachorden im linearen Bereich, die möglicherweise aus den Intervallen, den großen Sekunden des Orchesters (Cis-Dis im Vc., E-Fis im Kb. etc.) resultieren und die von der Solo-Oboe gleich im ersten Einsatz oktaviert aufgegriffen werden (cis1-dis1, e1-fis1 und c2-b1, g1-a1). Der erste Fermatenton des Solo-Oboisten (T. 42) – das f3 – geht konform mit dem p-Ton der Orchesteroboe in der Kleinterzschichtung; jedoch überdeckt der Spaltklang des Solisten auf grelle Weise das aktuelle Geschehen. Die ungeheure Intensität, mit der der Solist im II. Satz einsetzt, lässt wohl gar keine andere Tonlichkeit als den Spaltklang zu. Mit dieser Vehemenz scheint der Solist die beiden ersten Allegro-Abschnitte auch zu dominieren. Das Orchester wird ‚übermächtigt‘, um ein Wort Michael Hampes zu gebrauchen (Hampe 2011, Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück, München, S. 136), das heißt der Solist als „Subjekt-das-kann“ beherrscht mit einem gewissen Vorbehalt diese beiden ersten Allegro-Abschnitte, er dehnt die Reichweite seines Ego weiter aus.
Wie Institutionen organisiert Goldmann den Machtraum durch Intervalle in verschiedenen Oktavlagen, „denn kein Gesellschaftssystem mit komplexer Sozialorganisation verzichtet auf Macht-Mittel staatlicher Gewalt (Gerichte, Polizei, Militär, Strafanstalten), um die innere Ordnung und die äußere Sicherheit des politisch-sozialen Systems zu gewährleisten.“ (S. 265) (Lexikon Die Zeit, Bd. 9: Artikel Macht, S. 210) Das sinfonische Orchester mit dem Dirigenten ist die organisierte Macht, das trifft vor allem für die Allegro-Abschnitte im zweiten Satz zu. Die den Orchestermusikern abverlangten Spieltechniken bleiben weitgehend konventionell.

Die Partitur des Oboenkonzertes von Friedrich Goldmann ist – wie wir gesehen haben – ein „Kompendium modernen, metierbewussten Komponierens und ein Wunderwerk technischer Kunstfertigkeit.“ (Schneider 1980, S. 331) Sie beeindruckt ganz besonders durch ihren ungeheuren strukturellen Beziehungsreichtum. Wir haben unter verschiedenen Aspekten nach Tangenten gesucht, die es uns ermöglichen, einen speziellen Blick auf verschiedene Orte des kompositorischen Geschehens zu werfen, nicht nur im Hinblick auf das Oboenkonzert, sondern auch auf die drei anderen Konzerte für Posaune, Violine und für Klavier. Den Intentionen des Komponisten in diesen Konzerten wirklich näher kommen zu wollen, wäre wohl anmaßend gewesen. „Es gibt keine eindeutige Deutung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit als voll vergegenwärtigt enthält.“ (H. Kimmerle 2000, Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg, S. 24)

(S. 266) Bei den Konzerten sind wir immer wieder auf die Situation andauernder Veränderung gestoßen, auf eine Schaffenswelt, die uns das ständige Werden des Werkes verdeutlichte, was zugleich auch eine gewisse Einheit der Ableitung zur Folge hatte, ohne dabei die traditionelle Formenwelt vollends aus dem Auge zu verlieren. Mögliche Bezüge, wenn sie denn dem Analysierenden aufzutreten schienen, waren eher unterschwellig oder so vage, dass die kompositorische Eigenständigkeit und Goldmanns individuelles Ausdrucksniveau durch die Verwendung des kontingent-thematischen Materials uns beständig in eine Klang- und Kommunikationswelt führte, deren Spannungen und Entspannungen in der Materialverarbeitung immer wieder neu eine Balance zwischen Formung und Ausdruckswerten schufen. Auffällig in den Konzerten ist der Intensitätsabbau, das Deaktivieren mentaler Kapazitäten am Ende eines jeden der vier Konzerte. Ob dieses Gestalten aus dem Spannungsfeld Individuum – Gesellschaft resultiert oder andere Quellen dafür heranzuziehen sind, mag an dieser Stelle offen bleiben. (S. 267) Mit Hilfe eines Spiegels haben wir versucht, analytische Lichtreflexe in den Aufbau der Konzerte zu projizieren und ihren Intentionen nachzuspüren. Das wiederholte Hören hat uns verunsichert, uns immer neue Beziehungsmöglichkeiten offenbart. Dass die Konzerte Friedrich Goldmanns ein so reiches Verweisungsgefüge auszeichnet, macht sie unseres Erachtens so hörenswert, macht sie zu einem akustischen Abenteuer.