(S. 230) Im fünften und letzten Kapitel wollen wir uns mit
Überordnungs- respektive Unterordnungsverhältnissen
beschäftigen, wie sie in den Worten
„Führung“,
„Herrschaft“,
„Überlegenheit“,
„Macht“,
„Verfügungsgewalt“ oder
„Hierarchie“ zum Ausdruck kommen. Die Hinwendung zu
diesem Kapitel ist angeregt von Goldmann selbst. In seinem Salut
für die Leipziger Gruppe Neue Musik „Hanns
Eisler“ schreibt Goldmann: „Noch
gegen Ende der 60er Jahre war die Situation für jene
Komponisten dieses Landes [DDR] höchst ungünstig, die
es als notwendig erachteten, ausgefahrene Gleise zu verlassen und sich
ernsthaft auch mit dem auseinanderzusetzen, was sich anderswo
längst als entwicklungsbestimmend erwiesen hatte.
Ungünstig dabei war nicht nur der allgemeine kulturpolitische
Horizont, sondern auch der empfindliche Mangel an kompetenten
Interpreten.“ (Glaetzner/Kontressowitz 1990, Spielhorizonte.
Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« 1979-1990,
Leipzig, S. 18) Und weiter: „Dirigenten entwickeln in aller
Regel Herrschaftsgelüste, so dass Ensembles, die sich von
traditionellen Herrschaftsstrukturen zu emanzipieren trachten, gut
daran tun, die Verfügungsgewalt von Dirigenten zu beschneiden
und mehr Gleichberechtigung zu praktizieren (demokratische Strukturen
vertragen sich nicht ohne weiteres mit Chef-Positionen bzw.
-Ambitionen).“ (ebenda, S. 19) Für die Gruppe Neue
Musik »Hanns-Eisler« seien wechselnde
Verhältnisse das Normale. „Nicht in jedem Falle
werden dabei Hierarchien abgebaut oder gar außer Kraft
gesetzt, wohl aber werden sie – zwangsläufig
– in Bewegung gebracht.“ (ebenda) Goldmann spricht
davon, dass man „den Umgang mit wechselnden
Hierarchien“ üben müsse, er sei ein
„notwendiges Training in Sachen Demokratie“. Es
sind eben derartige Äußerungen, die uns glauben
lassen, dass Goldmann sich mit gesellschaftspolitischen und
soziologischen Fragen intensiv beschäftigt hat.
(S. 231) Max Weber unterscheidet drei reine Typen legitimer Herrschaft:
den rationalen Charakters, den traditionalen Charakters sowie den
charismatischen Charakters, dessen Legitimität unter anderem
auf die „Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie
offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“ beruhen (Weber 2010,
Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie.
Frankfurt/M., Lizenzausgabe 2010, S. 159). Oder wenn wir den
Konzertsolisten ins Blickfeld nehmen, der sich mit seinen
außergewöhnlichen Leistungen und
Fähigkeiten Respekt bei den Solisten-Kollegen verschafft, vor
allem aber beim Orchester, der Gemeinschaft. Sein Ziel ist die
Demonstration seiner Überlegenheit, die ihm eine
Führungsrolle einräumt, wobei jede Führung
sich auf die Autorität berufen können muss. (D.
Baecker 2009, Die Sache mit der Führung. Wien, S. 21)
„Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem
charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft
persönlichen Vertrauens … in Vorbildlichkeit
… gehorcht.“ (Weber 2010, S. 159)
„Charisma ist der Grenzfall der Autorität, weil sich
die Rückfragen nicht mehr stellen, auf die man angesichts von
Autorität verzichten muss.“ (Baecker 2009, S. 42f.)
Wir haben schon darauf hingewiesen,
dass im ersten Satz des Oboenkonzertes die Oboe das musikalische
Geschehen und den Ablauf weitgehend bestimmt; „das Orchester
nimmt auf, führt weiter, gibt seinerseits Neuformulierungen,
die dann auf die Oboe zurückwirken.“ (Goldmann 1979,
im Programmheft der Komischen Oper, Interview von Frank Schneider mit
F. Goldmann, Berlin) Diese Dominanz hat dann auch wohl folgerichtig den
Komponisten veranlasst, die traditionelle große Kadenz im
ersten Satz einzubauen. „Zu Beginn exponiert sich der Solist
mit durchaus konventionellen Techniken und Spielweisen –
allenfalls werden bestimmte Flageolett-Klänge ausgenutzt. Denn
zunächst ist die Differenzierung im strukturell
primären Bereich, also im klanglich engeren Sinne,
ausgearbeitet.“ (Goldmann 1979)
(S. 232) Goldmann selbst bezeichnet die Komposition als „eine
Art Oboenkonzert“ und sagt: „obwohl
möglicherweise irreführend, könnte man das
Stück »sinfonisch« nennen, da es nicht
einfach die traditionelle Konzertform benutzt.“ (Goldmann
1979) Vielleicht ist dies ein Hinweis auf die unterschiedliche
Handlungs-Konzeption der beiden Sätze. Wie ein Sozialarbeiter
kämpft der Solist im ersten Satz des Oboenkonzertes kraft
seiner charismatischen Führungsrolle mit psychologischen und
physischen Mitteln sozusagen um die Sozialisation der Stimmen und
Gruppen des Orchesters, während im zweiten Satz der Konflikt
Individuum – Gemeinschaft mit unterschiedlichen Strategien
ausgetragen wird. „Das Verhältnis der beiden
Sätze zueinander ist antithetisch, wofür aber der
Tempokontrast andante – allegro nur ein Indiz
ist.“(ebenda)
(S. 233) Der Solist, wir erinnern uns an den ersten Satz des
Oboenkonzertes, steigt im Takt 49 (vgl. Annäherung 1)
überraschend zum c3 auf und macht damit den Weg frei
für die Violinen, im Takt 73 dann auch für die
Holzbläser (Flöten, Oboen). Trotz virtuosester
Begleitung (T. 91ff., pp) der ersten Orchester-Oboe mit ihrem
kontingenten Thema (f) durch den Solisten, verbleibt das Orchester eher
im Statischen (Akkordischen), erst ein weiteres Solo ab T. 107
löst dieses statische Verhalten und evoziert nun ab Takt 119
eine zunehmende „Bewegungsintensität“. Mit
der nachfolgenden Raumerweiterung im Takt 135 und dem dann folgenden
Solo demonstriert der Solist seine Überlegenheit und
rechtfertigt damit auch seinen Führungsanspruch als Solist.
Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten (S.
234) ermöglichen ihm, in die obere Grenzregion seines
Instruments vorzustoßen. Erst diese überragende
physische und mentale Leistung überzeugt offenbar die
Gemeinschaft, das Orchester, ihm in wenn auch sehr unterschiedlicher
Weise zu folgen. Der Solist als Vor-Spieler, als Vor-Denker ist bei
Goldmann also keiner, der – wie Canetti seinen Dirigenten
schildert – „Macht über Leben und Tod der
Stimmen“ hat (E. Canetti 2006, Masse und Macht, Hildesheim
1960, Lizenzausgabe Frankfurt/M.). Die Macht des Solisten ist eine
andere. Mit seinen Handlungen beweist er sich als
„Subjekt-das-kann“ (Sloterdijk 2010, Scheintod im
Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, Berlin, S.
16), gewissermaßen als das Ergebnis von Begabung,
Fleiß und Übung und ist damit konditioniert zu
seiner „Könnensverfassung“ (Sloterdijk
2010, S. 16f.), die man gemeinhin „als Habitus, Tugend,
Virtuosität, Kompetenz, Exzellenz oder Fitness“
bezeichnet.
War es im ersten Satz des Oboenkonzertes gewissermaßen die
messianische Botschaft des Solisten von den vielfältigen
Seinsmöglichkeiten, die es auf eine Masse zu transferieren
galt, so sind die Situationen im zweiten Satz deutlich andere. Das
Verhältnis kehrt sich gewissermaßen um:
„die entscheidenden Aktionen gehen vom Orchester aus, in das
sich die Oboe einblendet, ihrerseits den großen Apparat zu
verändertem Verhalten nötigt. Es handelt sich also in
den beiden Sätzen um ein polares Aktions-Reaktions-Verhalten
zwischen den konzertierenden Parteien“ (Goldmann 1979), was
beim Hören durchaus spürbar wird. Dennoch, die
Dominanz, der beherrschende Part, verbleibt natürlich auch im
zweiten Satz bei der Solo-Oboe, deren Entfaltung freilich über
Teilstrecken aufgrund des Widerstandes vom Orchester, der Gemeinschaft,
offenbar nur mit aggressiven (Spalt-)Klängen möglich
ist. Doch selbst in dieser deformierten Klangwelt – fast
ausschließlich in den sieben Allegro-Abschnitten –
bleibt der Solist noch das „Subjekt-das-kann“ und
zwar mehr als die Masse der Gemeinschaft.
Den „großen Apparat“ teilt Goldmann, wie schon im ersten Satz (vgl. Annäherung I Ansätze einer Gruppendynamik), a priori in fünf Gruppen, die sich in ihrem statischen respektive dynamischen Verhalten deutlich unterscheiden, jedoch nun im zweiten Satz keine gruppendynamische Relevanz aufweisen. (S. 237) Der zweite Satz baut seine Formteile Allegro und Allegro molto gewissermaßen um das Lento herum (vgl. Abb. 2, S. 231), das von den insgesamt 612 Takten des zweiten Satzes 50 Takte einnimmt und in seiner wundersamen Abgeklärtheit und spannungsvollen Ergriffenheit an Eichendorffs Gedicht Mondnacht erinnert. Es ist eine Reminiszenz an den ersten Satz, der Solist dialogisiert mit Gruppen von 2, 3, 4, 5, 6 Instrumenten, wobei Schlagzeug 1 und 2 (Vibraphon und Marimbaphon) die auffälligste Dialog-Gruppe bilden im Hinblick auf die Verwendung des kontingenten Themas. Auch hier obwaltet in der Solo-Oboe und fragmentarisch auch im Schlagzeug natürlich die arithmetische Zahlenfolge 1-5 sowohl in den Dauern der Hauptnoten wie in der Zahl der Vorschlagnoten. Es folgen sechs Variationen von Solo-Oboe und 2 Schlagzeugen (Vibr., Mar.) im Lento-Abschnitt (T. 331-380). (S. 241) Goldmann gestaltet die unterschiedlichen Klangfelder im Lento-Abschnitt so, dass die Dialoggruppen sich partiell überlagern, wodurch aufgrund ihrer Verwandtschaft eine Vereinheitlichung, ein tektonisches Ganzes entsteht. Wesentlich tragen die 3 Trompeten und die drei Posaunen zu einer ineinandergreifenden Raumtektonik bei.
(S. 247) Da wir uns hier nicht mit der politischen Macht
beschäftigen
(vgl. hierzu Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 3: Dokumente aus
den siebziger Jahren, hrsg. von U. Dibelius und F. Schneider, Berlin
1997), sondern vor allem die charismatische Herrschaftsform im Auge
haben, gelten unsere Analysen primär dem Aspekt der Macht-
bzw. der Herrschaftsbeziehungen, ihren großen Strategien wie
ihren Mikrobeziehungen. Wir konzentrieren uns auf die gegenseitigen
Beziehungen der Subjekte sowie auf die Beziehungen zwischen dem
Subjekt, dem Solisten und der Gemeinschaft, also auf die Beziehungen zu
den Gruppen und zum Orchester; denn „Führung
erfordert Kommunikation“. (Baecker 2009, S. 24)
(S. 255) Allegro – Lento – Allegro scheint auf den ersten Blick eine klare dreiteilige Bogenform zu sein. Bei genauerem Betrachten ist die Form deutlich kleingliedriger. Die Allegro-Abschnitte unterscheiden sich nicht nur durch die Tempobezeichnungen Allegro und Allegro molto voneinander, sondern sie sind – der filmischen Schnitttechnik mit abruptem Szenenwechsel nicht unähnlich – vor allem vom Charakter her grundverschieden. So stehen z. B. die Allegro-Abschnitte konsequent im 4/4-Takt und basieren in ihrem siebenmaligen Erscheinen auf einem nach bestimmten Intervallprinzipien konstruierten Akkord. Die vier Formteile im Allegro molto stehen konsequent im 3/4-Takt und bilden im Wesentlichen eine Abfolge von konzertierenden Variationen, verteilt auf unterschiedliche Instrumente beziehungsweise kleine Instrumentengruppen. Das relativ kurze Allegro (1) gründet die Vertikale auf einen verminderten Akkord in der oberen Lage und vier Sekundklängen in der mittleren und tiefen Lage (vgl. NB 24). Es entfaltet einen diffusen Klang, einer Lichtbrechung an rauer Oberfläche gleich, dessen Feinstruktur man erst durch konzentriertes Hören gewahr wird, etwa die permanent variierten Rhythmen im Schlagzeug, die kanonisch einsetzenden Rhythmen in den Streichern, die unschlüssigen Sekundbewegungen in den tiefen Holzbläsern oder das Funkeln der Spitzentöne in den Flöten, der 1. Oboe und besonders den Flageoletttönen der ersten Violinen. Der Solist findet lange Zeit keinen Einstieg in diese konturschwache Masse, keine Anhaltspunkte für eine Kontaktnahme, keine Aufforderung zur Kommunikation. Lautstark mischt er sich dann aber doch – charismatisch, wie wir ihn im ersten Satz kennengelernt haben – im Takt 41 mit expressiven Spaltklängen ein, permanent im ff; das Orchester zieht sich zurück.
(S. 256) – Schnitt und „Szenenwechsel“
–
3/4-Takt
Die „Oboenfamilie“ (Solo-Oboe und zwei
Orchester-Oboen) musiziert – begleitet von einem leicht
changierenden Repetitions-Akkord der vier Hörner –
in geradezu idealtypischer, vertrauter Gemeinsamkeit im Allegro molto
(I) mit großem Bogen und weitgespreizten Intervallen aus dem
Modus a-h-c-d-es-f-(ges)-as, der am Ende der Passage in den beiden
Orchesteroboen in enger Lage erklingt. Der Solist verzichtet in diesem
Dialog nicht auf seine virtuosen Fiorituren. – Schnitt und
„Szenenwechsel“ – 4/4-Takt
Wie ein glücklicher Jubelnachklang vom vorangegangenen
Intermezzo erklingt der natürliche forte-Einsatz der Solo-Oboe im
Takt 70 auf dem a3 über der fahlen Fläche des
Orchesterklanges (vgl. NB 24) zu Beginn des Allegro (2). Doch wieder
sieht sich der Solist einem diffusen pp-Streuklanggebilde
gegenüber, dem er auch in dieser kurzen Episode in den Takten
81-87 mit Spaltklängen im ff begegnet.
– Schnitt und „Szenenwechsel“ –
3/4-Takt
Im folgenden Allegro molto (II) wiederholt sich das einvernehmliche
Musizieren in der „Oboenfamilie“ (vgl. NB 30, T.
88-96), begleitet wiederum von vier Hörnern, die mit ihrem
Repetitionsakkord (des1-es1-e1-ges1) auch die folgende, in ihrer
Linienführung krebsgängige Variation in den Violinen
1 und 2 (vgl. NB 31, T. 96-102), begleiten. Nach einem kurzen,
fanfarenartigen Einwurf der Blechbläser konzertiert noch
einmal die „Oboenfamilie“ im nachfolgenden Wechsel
mit den Blechbläsern, bevor Flöte und Klarinette 1
eine Harmonisierung mit dem Solisten andeuten (vgl. NB 33), wobei der
charismatische Solist genregemäß mit virtuosen
Spielfiguren brilliert. Allegro molto II und IV korrespondieren nicht
nur von der Dauer her (beide 3 Min.), sondern auch von der Vielfalt der
Kombinationen der konzertierenden Instrumente. Was auf den ersten Blick
und beim ersten Hören wie ein unbeschwertes Konzertieren
anmutet, wird bei näherer Betrachtung deutlich,
nämlich dass nicht mehr der Solist a priori dominiert, sondern
er sich vielmehr mit eleganten und virtuosen Umspielungen den
kontingent-thematischen Vorgaben der Orchesterinstrumente zuordnet.
Die Allegro molto-Abschnitte sind der Raum des traditionellen
Konzertierens, auch wenn die Harmonisierung, das
Aufeinander-abgestimmt-sein zunehmend stärker nun nicht mehr
von der Führungsrolle des Solisten auszugehen scheint, sondern
mehr und mehr das Orchester die dominierende Instanz wird und der
Solist lediglich mit virtuosem Figurenwerk sein hierarchisches Gebaren
aufrecht zu erhalten sucht. Die mehrfache Übernahme des
kontingent-thematischen Materials durch die Violinen (T. 96)
während der Solist schweigt, die wiederholten, massiven
fanfarenartigen Einbrüche der Blechbläser, die
allesamt am kontingent-thematischen Geschehen im II. Allegro molto
teilhaben, grenzen den Kompetenzbereich des Solisten stark ein und
verändern die für den Solisten zunehmend
prekäre Situation in geradezu restriktiver Weise, so dass ihm
mit dem massiven Einsatz des Orchesters (T. 247) wieder nur die
expressive Ausdrucksweise des Spaltklangs bleibt, die er dann im
folgenden dritten Allegro und ebenso im fünften Allegro wie
auch in den senza misura-Abschnitten
beibehält.
(S. 257) „Überhaupt scheint das Austragen des
widerspruchsvollen Spannungsverhältnisses zwischen subjektiv
geprägter Ausdrucksvorstellung und vorgegebenen
genrespezifischen Musizierkonventionen im Zeichen
schöpferischer Autorität des Komponisten erneut
Grundimpuls und durchgeführtes »Thema«
dieser Konzertkonzeption zu sein.“ Goldmanns Versuch einer
Lösung in Richtung „einer logisch stimmigen und
sinnlich produktiven“ nivelliert diese Dialektik nicht,
sondern macht sie „als formales wie expressives
Spannungsmoment der Rezeption unmittelbar erfahrbar“,
vorausgesetzt natürlich, Goldmann hält „die
wesentlichen Gattungscharakteristika in der aktuellen Problematisierung
noch für tragfähig“ (Schneider 1984,
Schallplattentext zum Konzert für Oboe und Orchester von
Friedrich Goldmann, NOVA 8 85226, VEB Deutsche Schallplatten Berlin),
was im Oboenkonzert ganz offensichtlich der Fall ist.
Die einer europäischen Tradition verpflichtete große
Bogenform (A-B-A1) des II. Satzes zeigt in den Außenteilen
deutliche Unterschiede, die in den Allegro molto-Abschnitten
gewissermaßen als traditionelles, kammermusikalisches
Konzertieren wahrnehmbar werden, während die
Allegro-Abschnitte
in eher avancierter Moderne die dialektisch-sinfonische Form der
Auseinandersetzung zwischen dem Individuum, dem Solisten, und der
Gemeinschaft, dem Orchester, wählen. Die wirklichen Spannungen
liegen also nicht in den Allegro molto-Abschnitten, sondern in den
Allegro-Abschnitten; entsprechend größer sind
deshalb auch deren Zeitfenster, die – besser als die
Taktzahl-Proportionen A = 330 Takte, B = 80 Takte und A1 = 232 Takte
– die wahrnehmbaren Verhältnisse
ausdrücken (vgl. im Buch Abb. 4, S. 257). Die Konfrontationen
in den folgenden Allegro molto-Abschnitten
zwischen dem Solisten und dem Orchester beziehungsweise Gruppen
desselben sind – wenn man so will – die aktiven
Auseinandersetzungen zwischen Individuum und Gemeinschaft …,
während in den Allegro-Abschnitten eher die
gesellschaftlichen Institutionen – das Regelwerk jeder
Gemeinschaft – die ordnende, regulierende wie auch
restriktive Funktion innehaben.
Uns interessiert nachfolgend weniger das scheinbar einvernehmliche,
harmonisierte Konzertieren in den Allegro molto-Teilen als vielmehr das
Geschehen in den sinfonisch-dramatischen Allegro-Teilen, wenngleich
wohl eben genau dieser Kontrast, diese Schnitttechnik das Spannungsfeld
des Sinfonischen in den Allegro-Teilen aufrechterhält.
Der Komponist präsentiert als synthetische Raumordnungsmacht
im Spiel des Komponierens zwei sozialpolitische Welten im orchestralen
Spannungsfeld von aufgedehntem Containerraum in den
Allegro-Abschnitten,
der sich in den Verortungen der Intervalle (Klänge) nur
geringfügig und auch nur scheinbar verändert, da die
Kontrollinstanzen jeweils Fixpunkte des Modus’ sind, und dem
freien, harmonisierten Handlungsraum in den Allegro molto-Abschnitten,
der im Akt des Konzertierens entsteht. Und eben dieser Grad der
Übereinstimmung von Solist und Orchester definiert
möglicherweise die kommunikative Relevanz des Raumes,
während jener Containerraum gewissermaßen als eine
‚institutionelle Macht’ fungiert. Juridisch
sanktionierten, gesellschaftlichen Institutionen gleich kontrollieren
im Allegro-Abschnitt die Intervalle an Fixpunkten den Modus und
konstituieren gleichzeitig einen Handlungsmachtraum, der in seiner
Omnipräsenz restriktiv auf den Solisten wirkt. Dieser Eindruck
verstärkt sich durch den mehrfachen Wechsel mit den Allegro
molto-Abschnitten, so ließe sich die anfängliche
Omnipotenz des Solisten durchaus noch als demokratische Leitinstanz
deuten.
NB 47: Oboenkonzert, 2. Satz, erster Einsatz der Solo-Oboe, T.
41 (S. 263)
(S. 264) Wie der Ausbruch einer
inneren Aggression, ein von innerer Unruhe getriebenes Aufbegehren,
klingt der erste Einsatz des Solisten im T. 41. Er zieht die
Aufmerksamkeit durch äußerste Virtuosität
und bis dahin ungehörte (Spalt-)Klänge im ff auf
sich. Teile des Orchesters ziehen sich zurück. Es ist nur ein
relativ kurzer erster Auftritt des Solisten, aggressiv und in
selbstentfremdeter Klanglichkeit. Es ist weniger ein Innehalten des
Orchesters im Akkord als vielmehr das weitgehend Verhaltens-Statische
eines institutionellen Machtapparates, das die beiden ersten
Allegro-Abschnitte prägt.
Uns interessiert in diesem ersten und in den weiteren
Allegro-Abschnitten
das Verhalten des Solisten; akzeptiert er die Kontrollinstanz der
Intervalle des Orchester-Modus’ oder durchbricht er sie kraft
seiner exponierten, charismatischen Führungsrolle, die er
zweifelsohne im ersten Satz eingenommen hat. Bleibt er in der
Hierarchie die dominierende Persönlichkeit oder zwingen ihn
die Bedingungen zu einem veränderten Verhalten.
Schneider spricht in seiner Analyse von 1980 zurückhaltend
davon, dass Goldmann „nichts programmatisch Verdinglichtes
sagen … will, sondern in der poetischen Beschwörung
musikalisch definierter Strukturbeziehungen, Kommunikations-Situationen
und Intonationsmuster einen zweiteiligen zusammenhängenden
Klangprozess ausformt, dessen Prägnanz assoziative
Gefühlserlebnisse provozieren kann,“ dass sich
„des Autors wirkliche Weltbeziehung ohne zusätzliche
Quellen kaum sinnvoller erschließen lässt, als dies
bei aller anderen »bedeutenden« Musik auch der Fall
ist.“ (Schneider 1980, Fünf Gesichtspunkte zum
Konzert für Oboe und Orchester von Friedrich Goldmann. In:
Musik und Gesellschaft, Heft 6, Berlin, S. 331)
Es ist nicht zu erwarten, dass der Solist die juridische Institution,
das kompositorische Gesetz, für seinen Part negiert und die
Modalität von Ganzton-Halbtonfolge in Frage stellen
würde. Aber auffällig ist im ersten Allegro die
veränderte Bildung von Quartspannungen, Tetrachorden im
linearen Bereich, die möglicherweise aus den Intervallen, den
großen Sekunden des Orchesters (Cis-Dis im Vc., E-Fis im Kb.
etc.) resultieren und die von der Solo-Oboe gleich im ersten Einsatz
oktaviert aufgegriffen werden (cis1-dis1, e1-fis1 und c2-b1, g1-a1).
Der erste Fermatenton des Solo-Oboisten (T. 42) – das f3
– geht konform mit dem p-Ton der Orchesteroboe in der
Kleinterzschichtung; jedoch überdeckt der Spaltklang des
Solisten auf grelle Weise das aktuelle Geschehen. Die ungeheure
Intensität, mit der der Solist im II. Satz einsetzt,
lässt wohl gar keine andere Tonlichkeit als den Spaltklang zu.
Mit dieser Vehemenz scheint der Solist die beiden ersten
Allegro-Abschnitte
auch zu dominieren. Das Orchester wird
‚übermächtigt‘, um ein Wort
Michael Hampes zu gebrauchen (Hampe 2011, Das vollkommene Leben. Vier
Meditationen über das Glück, München, S.
136), das heißt der Solist als
„Subjekt-das-kann“ beherrscht mit einem gewissen
Vorbehalt diese beiden ersten Allegro-Abschnitte, er dehnt die
Reichweite seines Ego weiter aus.
Wie Institutionen organisiert Goldmann den Machtraum durch Intervalle
in verschiedenen Oktavlagen, „denn kein Gesellschaftssystem
mit komplexer Sozialorganisation verzichtet auf Macht-Mittel
staatlicher Gewalt (Gerichte, Polizei, Militär,
Strafanstalten), um die innere Ordnung und die
äußere Sicherheit des politisch-sozialen Systems zu
gewährleisten.“ (S. 265) (Lexikon Die Zeit, Bd. 9:
Artikel Macht, S. 210) Das sinfonische Orchester mit dem Dirigenten ist
die organisierte Macht, das trifft vor allem für die
Allegro-Abschnitte im zweiten Satz zu. Die den Orchestermusikern
abverlangten Spieltechniken bleiben weitgehend konventionell.
Die Partitur des Oboenkonzertes von
Friedrich Goldmann ist – wie wir gesehen haben –
ein „Kompendium modernen, metierbewussten Komponierens und
ein Wunderwerk technischer Kunstfertigkeit.“ (Schneider 1980,
S. 331) Sie beeindruckt ganz besonders durch ihren ungeheuren
strukturellen Beziehungsreichtum.
Wir haben unter verschiedenen Aspekten nach Tangenten gesucht, die es
uns ermöglichen, einen speziellen Blick auf verschiedene Orte
des kompositorischen Geschehens zu werfen, nicht nur im Hinblick auf
das Oboenkonzert, sondern auch auf die drei anderen Konzerte
für Posaune, Violine und für Klavier. Den Intentionen
des Komponisten in diesen Konzerten wirklich näher kommen zu
wollen, wäre wohl anmaßend gewesen. „Es
gibt keine eindeutige Deutung eines Kunstwerks, die seine Wahrheit als
voll vergegenwärtigt enthält.“ (H. Kimmerle
2000, Jacques Derrida zur Einführung, Hamburg, S. 24)
(S. 266) Bei den Konzerten sind wir immer wieder auf die Situation andauernder Veränderung gestoßen, auf eine Schaffenswelt, die uns das ständige Werden des Werkes verdeutlichte, was zugleich auch eine gewisse Einheit der Ableitung zur Folge hatte, ohne dabei die traditionelle Formenwelt vollends aus dem Auge zu verlieren. Mögliche Bezüge, wenn sie denn dem Analysierenden aufzutreten schienen, waren eher unterschwellig oder so vage, dass die kompositorische Eigenständigkeit und Goldmanns individuelles Ausdrucksniveau durch die Verwendung des kontingent-thematischen Materials uns beständig in eine Klang- und Kommunikationswelt führte, deren Spannungen und Entspannungen in der Materialverarbeitung immer wieder neu eine Balance zwischen Formung und Ausdruckswerten schufen. Auffällig in den Konzerten ist der Intensitätsabbau, das Deaktivieren mentaler Kapazitäten am Ende eines jeden der vier Konzerte. Ob dieses Gestalten aus dem Spannungsfeld Individuum – Gesellschaft resultiert oder andere Quellen dafür heranzuziehen sind, mag an dieser Stelle offen bleiben. (S. 267) Mit Hilfe eines Spiegels haben wir versucht, analytische Lichtreflexe in den Aufbau der Konzerte zu projizieren und ihren Intentionen nachzuspüren. Das wiederholte Hören hat uns verunsichert, uns immer neue Beziehungsmöglichkeiten offenbart. Dass die Konzerte Friedrich Goldmanns ein so reiches Verweisungsgefüge auszeichnet, macht sie unseres Erachtens so hörenswert, macht sie zu einem akustischen Abenteuer.