Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von 
Friedrich Goldmann 

Das Buch erschien 2014 im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad

Nachfolgend einige Auszüge mit Seitenzahlen, Abbildungen und Notenbeispielen, die auf das Buch verweisen.

Annäherung 4 (S. 147-225)

Soziale Systeme: Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft

(S. 148) Die Relationen zu sich selbst, zueinander und zur Welt, das heißt die permanente Interdependenz, sind Gegenstand der folgenden Abhandlung. Dabei gilt uns der Begriff „Gemeinschaft“ nicht als konkrete Teil-Form des gesellschaftlichen Lebens, sondern lediglich als Gestaltungsaspekt einer Trichotomie von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft.

Individuum: Jeder einzelne Instrumentalist des Orchesters wird von uns als Individuum gesehen, als vom Komponisten zwar gesteuerte, jedoch handelnde Person in der Wiedergabe seiner Stimme im Orchester, sobald er exponiert in Erscheinung tritt. Insbesondere gilt aber der Solist eines Solokonzertes als ein herausragendes Individuum kraft seiner überragenden Fähigkeiten und seiner ausgeprägten Persönlichkeit.

Gemeinschaft: Max Weber (2010, Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt/M.; S. 29), der von „Vergemeinschaftung“ spricht, lieferte in seinem grundlegenden Werk über die Entstehung und Wirkung politischer und ökonomischer Macht folgende Definition: „»Vergemeinschaftung« soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“ Als eine Gemeinschaft wollen wir das Orchester ansehen mit den unterschiedlichen instrumentalen Großgruppen: Holzbläser, Blechbläser, Streicher, Schlagwerk etc., die wiederum aus den kleineren Instrumenten-Gruppen bestehen: Flöten, Oboen, Klarinetten, Hörnern, Trompeten, Violinen etc.

Wir wollen unter dem von Ferdinand Tönnies begründeten, soziologischen Konzeptbegriff Gemeinschaft – aufgrund der affektiven Nähe der Orchestermitglieder zueinander und die besonders enge, zielorientierte Verbundenheit dieser Individuen, deren Beziehungsformen und Ordnungsvorstellungen auf eine emotional-geistige Einheit ausgerichtet sind – ein Beziehungsverhältnis verstehen, das sowohl vom „Wesenswillen“ (dem Handeln aus innerem Antrieb) als auch vom „Kürwillen“ (dem Handeln aus äußeren Zielsetzungen) geprägt ist (F. Tönnies 1887, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig, S. 100). „Jeder handelt für das gemeinsame Beziehungsverhältnis.“ (R. Hettlage 1989, Gemeinschaft, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. von G. Endruweit, G. Trommsdorf, Stuttgart S. 232)

Gesellschaft: „Der Gesellschaftsbegriff ist immer Teil einer Theorie des menschlichen Zusammenlebens, als theoretischer Begriff immer abhängig von der sozialen Realität der Gesellschaft als seiner Praxis.“ (Rammstedt 1988, Gesellschaft [2], in: Lexikon zur Soziologie, hrsg. von W. Fuchs, R. Klima, R. Lautmann, O. Rammstedt, H. Wienold, Opladen S. 267) Die neuere Soziologie sieht die „Gesellschaft als Summe von Individuen, die durch ein Netzwerk sozialer Beziehungen miteinander (S. 150) in Kontakt und Interaktion stehen.“ (H. Wienold 2/1978, Gesellschaft [3] u. [5], in: Lexikon zur Soziologie, hrsg. von W. Fuchs, R. Klima, R. Lautmann, O. Rammstedt, H. Wienold, Opladen, S. 268) Geht man also davon aus, dass Gesellschaft ein Netzwerk sozialer Beziehungen von Individuen ist, dann ist die Untersuchung dessen, was Gesellschaft genannt werden soll, eine “Untersuchung der Formen und Strukturen“ ihrer Beziehungen.
Der Soziologe Max Weber (1864-1920) bezeichnet die gesellschaftlichen Beziehungen, aus deren Summe die Gesellschaft entsteht, mit dem Begriff des sozialen Handelns, das dadurch gekennzeichnet ist, dass sein vom Handelnden gemeinter Sinn immer auf das Handeln anderer bezogen ist und durch diese Orientierung gesteuert wird.“ (Wienold 2/1978, S. 268) Für Max Weber soll »Vergesellschaftung« „eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ (Weber 2010, S. 29) Der 1902 in Colorado Springs geborene Soziologe Talcott Parsons definiert „Gesellschaft als die Kollektvität (= soziales System mit gemeinschaftlicher Wertorientierung und Handlungsfähigkeit), die alle erhaltungsnotwendigen Funktionen in sich erfüllen kann […].“ (Luhmann 2/1978, Gesellschaft [4], in: Lexikon zur Soziologie, hrsg. von W. Fuchs, R. Klima, R. Lautmann, O. Rammstedt, H. Wienold, Opladen, S. 268) In kulturanthropologischen Theorien wird „Gesellschaft als Gruppe von Individuen definiert, die sich durch eine gesonderte Kultur (Wertsystem, Tradition) auszeichnet und unabhängig von anderen Gruppierungen ist (nicht Untergruppe einer anderen Gruppe). Bestimmend für die sozialen Beziehungen ist das Hineinwachsen des einzelnen in die durch Kultur angebotenen Orientierungen und Handlungsformen.“ (Wienold 1978, S. 268). Nach Luhmann ist Gesellschaft das umfassendste Sozialsystem. (G. Kneer/A. Nassehi 4/2000, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, München, S. 111) Für Ulrich Beck zeichnete sich bereits in den 60er Jahren der „Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung“ ab und nahm „eine Art »Gestaltwandel« im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ an, er nennt diesen Gestaltwandel »Individualisierung«. Und diese Gesellschaft, in der dieser Wandel zum Ausdruck kommt, bezeichnet er als »Risikogesellschaft« (Beck 1986, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main).

(S. 151) Der Mensch ist aufgefordert, die individuellen Entscheidungen für sein Leben selbst zu treffen, doch Institutionen und Regelungen, Moden und Erwartungen lenken oder zwingen ihn mit seinen Entscheidungen in eine bestimmte Richtung. Zur „Entzauberung“ haben in ganz entscheidendem Maße die Medien beigetragen mit der Darstellung der Fülle des Lebens, was zu dem Schluss führte, dass das Individuum allein auf sich vertraute und alles selbst entscheiden und vor anderen rechtfertigen musste. Zu einem solchen Verhalten sind die Individuen bei diesem Mentalitätswechsel naturgemäß sehr unterschiedlich in der Lage. Wer aber in den Wandel eingreifen will und ihn nicht nur konstatiert, der muss das Machbare denken oder wie Bernard Shaw es formuliert haben soll: ‚wir dürfen die Dinge nicht so sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein sollen.‘ Doch diese Spannweite ist groß, wenn man an Pastor Lorenzens Worte in Fontanes Stechlin von 1899 denkt: „Jedes höher gesteckte Ziel, jedes Wollen, das über den Kartoffelsack hinausgeht, findet kein Verständnis.“ (Fontane 1983, Werke in fünf Bänden, Bd. 5: Der Stechlin, Berlin und Weimar, S. 394)
Jedes Individuum wird in ein bestimmtes Denken und Handeln hineingeboren, in eine Gesellschaft, deren Denken und Handeln aufgrund bestimmter Überzeugungen und Regelungen, wie eine Welt sein sollte und wie sie tatsächlich ist, mehr oder weniger festgelegt ist. Dieses normierte Denken und Handeln, das außerhalb des Individuums steht, das sind gewissermaßen die Sedimente, die moralischen Gebote, die öffentliche Meinung, die Normen des Rechts unseres gesellschaftlichen Lebens, sie sind das Kollektivbewusstsein. Diese Regulierung und Gesetzgebung empfindet das Individuum nur dann als Zwang, wenn es sich mit den gesellschaftlichen Konventionen, „die uns im Prozess der Sozialisation als ganz selbstverständlich nahe gebracht werden“ (Abels 2007, Einführung in die Soziologie, Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft, Wiesbaden, S. 143), nicht identifizieren kann.

Den Prozess des alltäglichen Aufnehmens und Annehmens der sozialen Tatsachen nennt Durkheim Internalisierung und substituiert den früheren Begriff „faits sociaux“ für die durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen durch „Institutionen“. „Tatsächlich kann man … alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.“ (Durkheim 3/1970, S. 100). Das Annehmen dieser Institutionen ist zum einen dem sozialen Zwang geschuldet und zum anderen ist damit aber auch die Anerkennung verbunden, die das Individuum bei Konformität findet. „Solange Alternativen des Handelns nicht bekannt sind, wird in der Tat (S. 152) mancher den »zwingenden Charakter« der sozialen Tatsachen nicht empfinden.“ (Abels 2007, S. 144) Das Sich-Verdichten von wiederholten Handlungen zu Modellen weiteren Handelns bezeichnen Berger und Luckmann als Habitualisierung, wiederholt erfolgreiches Verhalten wird zu typischem Verhalten generalisiert, solche Muster werden zum Habitus. Derartige habitualisierte Prozesse führen zur Institutionalisierung. Dieser wohl eher dynamische Begriff deutet an, „dass das Individuum sich seiner Mitwirkung an der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit immer bewusst bleiben – und sie einfordern – muss.“ (Abels 2007, S. 169) (S. 153) „Institutionen sind geronnene Kultur. Sie transformieren kulturelle Wertorientierungen in eine normativ verbindliche soziale Ordnung. Institutionen sind Ausdruck einer den Menschen gegenübertretenden Macht.“ … „Institutionen sind Ideen über die Welt“. Wenn also ein Komponist wie Friedrich Goldmann, der engagiert und kritisch die konstruktiven Ergebnisse solcher kompositorischen Prozesse – der spezifisch widerspruchsvollen inneren Kontinuität des kompositorischen Fortschreitens wie hinsichtlich der Dialektik von nationalem und internationalem Kunstprozess einschließlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen verarbeitet – in seiner schöpferischen Produktion bewusst auf die Verhältnisse in der Gesellschaft und den jeweiligen Zustand ihrer Musikkultur reagiert (Schneider 1979, S. 84), dann bedeutet das ein kritisches Untersuchen der Feststellungen des Wissens, eben dieser „Institutionalisierung“ der Wirklichkeit.

Das Individuum – die Gemeinschaft
In jedem Menschen besteht „gleichsam eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen und dem Sozialen [...], die nur die Form wechselt: je enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen ab.“ (Simmel 3/1989, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hrsg. v. H.-J. Dahme und O. Rammstedt, Frankfurt/M., S. 56) Eine solche Situation ist sehr schön zu beobachten im Oboenkonzert, vor allem aber im Klavierkonzert, wo der Pianist mit solistischen Instrumenten des Orchesters dialogisiert, wodurch der Situation etwas Privates, eng miteinander Verbundenes, nahezu Intimes anhaftet. „Und umgekehrt: erweitert sich der Kreis, in dem wir uns betätigen und dem unsre Interessen gelten, so ist darin mehr Spielraum für die Entwicklung unsrer Individualität …“ (Simmel 3/1989, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hrsg. v. H.-J. Dahme und O. Rammstedt, Frankfurt/M., S. 56) Jedes Tun und Handeln eines sozialen Individuums wirkt „auf andere Gebilde ein und wird von ihnen bewirkt. Das ist gemeint, wenn man die Ordnung als Prozess versteht.“ (Abels 2007, S. 104) Wenn wir diesen soziologischen Prozess nun auf unser Modell Solist – Orchester übertragen, dann unterscheiden wir:
• den Solisten in seiner Individualität mit der Wirkung auf das Orchester oder auf Teile desselben bzw. die Veränderung des Verhaltens des Solisten als Folge entsprechender Rückkopplungswahrnehmung,
• den Solisten in der gelegentlichen Eingebundenheit in kleinste Kreise (etwa im kammermusikalischen Posaunenkonzert oder die Kommunikation, das Konzertieren mit wenigen „Individuen“ aus dem Orchester in den anderen Konzerten), also die engen Kreise von Teilen der Gemeinschaft, den Gruppen mit ihrer deutlichen Abgrenzung gegenüber den anderen, und
• die Ausweitung des Spielraums für den Solisten aufgrund des erweiterten Kreises (gesamtes Orchester) bei verstärktem sozialen Interesse der Gemeinschaft (etwa im Oboenkonzert).

Das Anfangen steht – zumindest in den Konzerten für Posaune, Violine und Klavier – unter der Prämisse von Sein – Sich aber noch nicht haben – und darum Werden müssen, das heißt, erst ganz am Ende dieser Hörereignisse wird sich herausgestellt haben, was Goldmann wirklich zu sagen hatte; oder wie Peter Sloterdijk es im Nachwort zu „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ von Friedrich Nietzsche formuliert: „Das Spiel setzt ein, als wolle der Spieler sagen: Ich bin da – aber ich habe mich noch nicht; darum muß ich werden. Ich wette also darauf, dass sich im Laufe der Vorstellung herausstellen wird, was ich wirklich zu sagen hatte.“ (Sloterdijk 2000, S. 200)

Konzert für Posaune und drei Instrumentalgruppen

Ein Charakteristikum im Posaunenkonzert ist das wechselnde Dominieren der Gruppen und des Solisten. Dieses Konzert ist nicht für einen Virtuosen im landläufigen Sinne geschrieben, sondern für einen speziellen Instrumentalisten der Leipziger Gruppe Neue Musik »Hanns-Eisler«. Solisten sind sie, die Musiker der Gruppe, allesamt; insofern ist der Posaunist hier nicht mehr als ein Gleicher unter Gleichen, vom Komponisten „isoliert“ als Solist, doch nicht die Komposition permanent dominierend oder gar den dramaturgischen Ablauf entscheidend „führend“. Aber mit der Auswahl des Instruments … charakterisiert Goldmann vielmehr die Individualität der zum Solisten ernannten Person, für die das Konzert geschrieben wurde, den Komponistenkollegen (und Posaunisten) Friedrich Schenker und dessen zu dieser Zeit hochexpressionistisches Denken in Bezug auf die kompositorischen Strukturen, die sich oft an der Grenze des physisch Machbaren und psychisch Verkraftbaren bewegen. Goldmann kommt hier dem Denken, der Mentalität Friedrich Schenkers sehr weit entgegen. Auffällig ist auch die introvertierte bzw. sehr zurückgenommene (pp) Dominanz des Solisten in den Ecksätzen des Violinkonzertes und im Gegensatz dazu die a priori führende, virtuose Dominanz demonstrierende Solo-Oboe vor allem im ersten Satz des Konzertes für Oboe und Orchester oder der eigen-unartig demokratisch sich gebärdende Solist im Klavierkonzert, der nicht mehr virtuoser Solist sein möchte oder in diesem Umfeld sein kann, sondern versucht, sich in ein Netzwerk von unterschiedlichsten Beziehungen einzubinden.

Konzert für Posaune und drei Instrumentalgruppen (1977)
NB 1: Beginn Teil I (Partitur T 1-15).


Konzert für Violine und Orchester (1977)
NB 4: Beginn des I. Satzes, „Partitur“ und Solo-Violine (T. 1-10)


(S. 161) Die drei Konzerte mit Orchester für Violine, Oboe und Klavier weisen sehr unterschiedliche Ausprägungen auf, die zuweilen bis hin zum scheinbaren Auseinanderbrechen reichen.

Konzert für Violine und Orchester

Bereits die Aufstellung der 35 Musiker des Orchesters bei der Uraufführung des Konzertes für Violine und Orchester – im offenen Ring um den Solisten und Dirigenten gruppiert – macht optisch den Gegensatz des dann musikalisch aufgedeckten Problems deutlich, nämlich wie isoliert das Individuum geführt wird. Wie wir im Oboenkonzert gesehen haben, übt sich Goldmann in der Variationstechnik (wir haben dabei stets mehr den Begriff „Veränderung“ im Blick), dabei möglichst viele Parameter einbeziehend.
Mit einem ausgedehnten Monolog leitet der Solist vor dem Hintergrund einer Geräuschkulisse von Maracas, Großer Trommel und Tamtam im pp den „Geburtsvorgang“ des Violinkonzertes ein. Zaghaft (pp) und in Septimensprüngen sucht der Solist nach seiner Ausdrucksform. Er steht gewissermaßen vor einer Tabula rasa, Eindrücke vom Orchester konnte er noch nicht aufnehmen. Die weiten Intervalle wirken ziellos. In der ersten Variation (Veränderung, T. 2/3) sind die 6 Dauern bzw. 12 Töne numerisch organisiert; die Tonfolgen bilden Dreiergruppen in weitgespannten Intervallen: f-g-fis / cis-h-c / g-f- /c-h-cis / fis.

(S. 162) Wie unsichere Atemübungen wirken die ersten drei Versuche der Solo-Violine in NB 4, die sich jeweils aus zwei permutierten Dauernfolgen (6,1,5,2,4,3 - 1,6,3,4,2,5 Sechzehntel im Takt 2) organisieren.

(S. 164) Der Solist versucht in sechs Einsätzen (Varianten) vergeblich, sich gegen die Klangmasse Gehör zu verschaffen. Das Individuum scheint ohne jegliche existentielle Chance, wenn Massen so undifferenziert und kompakt daherkommen bzw. wenn derartig unterschiedliche Handlungsstrukturen aufeinanderstoßen. Wie ein neuer Anfang wirkt daher das Spiel der Solovioline im folgenden Andante mit seinen zwei Varianten (T. 42 u. 44), die wiederum nur von den Geräuschen der Schlaginstrumente begleitet werden. Aus einem Klangfeld heraus, das durch Triller und Tremoli einen nahezu instabilen Charakter erhält, verschafft sich der Solist mit Doppelgriffen im ff (Tritonus, große Septime, kleine Terz, kleine Sexte) Gehör. Und es scheint, als wollten drei Violinen I solo als versöhnliche Geste einen Kanon anstimmen (T. 62-67) mit Intervallen respektive Motivgesten des Solisten, vgl. NB 13, obere Zeile: Solovioline, darunter drei Violinen I solo (T. 62-63).

Konzert für Violine und Orchester (1977)
NB 13: 3 Violinen mit dem kanonartigen Einsatz (T. 62-63)


Mit dem Einsatz der Solo-Violine im Takt 68 zieht sich das Orchester nach und nach zurück und der Solist tritt befreit mit Gesten hervor, die wir dann im Oboenkonzert wiederfinden werden.
Wie angstgehetzt in einem Alptraum klingen jetzt die flirrenden Tremoli des Solisten mit ihren raumgreifenden Septimensprüngen (T. 76: fff feroce – presto, senza misura). Der Solist findet im T. 77 das „In-der-Welt-Sein“ im pp mit sanften, melodisch abwärts geführten Gesten wieder (andante), die sich im dreifachen ppp zu verlieren scheinen und mit einem Pizzicato auf dem höchstmöglichen Ton enden (im p T. 80).
Der nachfolgende Abschnitt eröffnet im T. 81 eine ganz neue ‚Handlung‘. Verschiedene Individuen (Fl., Ob., Eh., Klar., Tr., Hr.) konzertieren quasi solistisch in einer Gemeinschaft unter Gleichen. Der Solist aus der Gemeinschaft wechselt die Instrumente, es ist quasi die Illusion eines ausgeglichenen, konzertanten, kammermusikalischen Miteinanders, denn die Idylle hält nicht lange an. Noch ein drittes Mal wälzt sich das kontrapunktisch diffuse Gewebe des Orchesters, wo jede Instrumentengruppe ihren eigenwilligen Beitrag zu leisten scheint, in den nachfolgenden Akkorden dahin (Partitur T. 111-114). (S. 167) Doch diesmal bleibt Raum für den Solisten, der sich gegen die bedrohlichen Klangmassen souverän gestemmt hat. Dann aber nimmt der Satz überraschenderweise ein geradezu kapriziöses Ende mit der Quinte über dem Anfangston (vgl. S. 157, NB 4, Takt 2). (S. 168) Von Beginn an ist die Solovioline in ihren Solopassagen (T. 2ff., T. 42ff., T. 77ff., 121ff.) stets mit den pp-Geräuschen der Schlagzeuggruppe (Maracas/Holzblock, Große Trommel, Tamtam) verbunden als eine Art Umweltgeräusch, aus dem alles Mögliche hervorbrechen könnte und das dadurch auch eine gewisse Spannung aufbaut oder zumindest eine Erwartung schürt. Während das Schlagzeug in den Abschnitten in denen es die Soli des Violinisten begleitet durch Wirbeltechnik ein permanentes pp-Geräusch erzeugt und auch in den wenigen numerisch gesteuerten Anschlägen am Schluss des ersten Satzes im pp verbleibt, agiert es in den Orchesterabschnitten mit deutlich stärkerer Dynamik vom pp bis hin zum ff und sffz in den Takten 73-75 und verleiht dem Geschehen eine dunkle Dramatik.

Ein Formteil im ersten Satz bedarf noch der besonderen Erwähnung, da er stärker auf eine Gemeinschaft von Individuen aufbaut und sich in einer anderen Welt zu befinden scheint als die Orchesterabschnitte mit ihrer eher undurchsichtigen, wenig differenzierten Massenbewegung. Möglicherweise sind es soziologisch diese drei Existenzformen im ersten Satz des Violinkonzertes, die Goldmann bei der Konzeption dezidiert im Auge hatte: die Masse des Orchesters als die Gemeinschaft, die kammermusikalisch musizierende Gruppe (als Gruppe in der Gemeinschaft) sowie den Solisten, das Individuum.
(S. 170) Die „Einsamkeit des Sologeigers“ (wie ein Rezensent schrieb) scheint sich auf die Gesellschaft zu beziehen, weniger auf die Gemeinschaft, als die wir das Orchester definiert haben, denn Teile des Orchesters, also Orchestergruppen (vornehmlich die Bläser) arrangieren sich durchaus mit dem vom Solisten eingespielten Gedankenmaterial. Resignation war Goldmanns Eigenschaft nicht …

(S. 183) „Es muss leicht sein, heroisch zu empfinden, wenn man von Natur unempfindlich ist, und in Kilometern zu denken, wenn man gar nicht weiß, welche Fülle jeder Millimeter verbergen kann.“ (Musil 26/2011, S. 63) Es sind keine Abbilder, die uns Goldmann liefert, sondern Inbilder seines Lebens. Ein Komponist ist Handelnder und zugleich immer auch Beobachter seines Handelns.

Konzert für Klavier und Orchester – Acht Sectionen

(S. 186) Wir werden sehr schnell feststellen, dass in diesem Konzert alles „Variation“ ist. Doch vielleicht sollten wir besser sagen „Veränderung“ – wie unseres Erachtens im Klavierkonzert –, wo man, wie Musil 1978 schrieb, ständig das Gefühl hat, das Ganze gliche „einem Mann, den ein unheimlicher Wandertrieb vorwärtsführt, für den es keine Rückkehr gibt und kein Erreichen …“ (R. Musil 26/2011, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, S. 234) Fast alle der acht Sectionen hinterlassen den Eindruck, als seien sie Aufblendungen auf eines im Fluss sich befindenden Ereignisses, eines Ablaufes, dessen Formung zwar erkennbar, aber nicht in jeder Phase zwingend ist. Die variablen Binnenstrukturen erlauben durchaus auch andere Fortschreitungen, freilich aber sind es dann nicht mehr die Sinngebungen des Komponisten. Der Solist entfernt sich weit vom traditionellen Solokonzert, auch wenn er gelegentlich nach Dominanz strebt, so bleibt er doch im Wesentlichen ein Musizierender innerhalb der Gemeinschaft des Orchesters respektive ein Konzertierender mit einzelnen Gruppen oder einzelnen Instrumentalisten. Nur selten stellt sich der Solist virtuos wirklich heraus, seine Kommunikationsform ist nicht hierarchisch angelegt, er ist Anreger und Empfänger gleichermaßen, sozial geprägt von einem gewissen Kollektivbewusstsein. Doch „neben der Offenbarkeit des Sinns für den Handelnden steht gleichursprünglich für den Analytiker die Undurchsichtigkeit […] des sozialen Zusammenhangs…“ (Durkheim 3/1970, Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied, S. 65).

Konzert für Klavier und Orchester (1979)
NB 44: Section 1, 1. Abschnitt: kleine Terz mit E in den Pauken (T. 1-16), vgl. Annäherung 3, NB 13


(S. 190) Das Ritual der Geburt von etwas Kunstartigem ist in der ersten Section ausgebreitet und die Initiation ist vollzogen. In den folgenden Sectionen erfolgen die Vorstöße ins weite Feld der unendlichen Vielfalt von kontingent-thematischen Veränderungen und in eine Formenvielfalt, die mal mehr mal weniger ihre Tradition in Erinnerung bringt.

(S. 225) Der Begriff Kontingenz ist zeitdiagnostisch von großer Relevanz. Die Erfahrung zunehmender Orientierungslosigkeit einerseits und das erstarkende Subjekt andererseits bilden heute eine scheinbar nur schwer überbrückbare Kluft und ein zunehmendes Risiko. Kontingenz wird „als eine dem Handeln eigene Chance verstanden“, die sie „in eine Figur der Freiheit verwandelt.“ (K. Palonen, Das ‚Webersche Moment‘. Zur Kontingenz des Politischen, Opladen 1998, S. 15) Da Handeln Selektion bedeutet, also eine zu treffende Entscheidung bei mehreren gegebenen Möglichkeiten ist, folgt daraus, dass es eine Entscheidung für diese eine Möglichkeit ist gegen alle anderen. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, welches Kriterium zu eben dieser einen Entscheidung führt. Aristoteles sah in der Erfahrung ein solches Kriterium.

Goldmanns „Figuren“, die Solisten seiner Konzerte, konnten unterschiedlicher kaum konstruiert und dramatisiert werden; ihre Chiffrierungen deuten auf Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die Erfahrung lehrt, dass jede Handlung für den Handelnden eine mehr oder weniger gut zu bewältigende Herausforderung darstellt. Goldmanns kompositorische Ereignisse sind in weiten Bereichen Handlungen, die aus einem Entscheidungskontext resultieren. Doch ein bestimmtes Handeln setzt grundsätzlich voraus, dass es überhaupt einen Spielraum offener Möglichkeiten gibt, denn Handeln „bedeutet Setzen von Wirklichkeit, die noch nicht ist.“ (R. Bubner 1998, Die Aristotelische Lehre vom Zufall. In: KONTINGENZ in der Reihe Poetik und Hermeneutik, hrsg. von G. Graevenitz und O. Marquard, München, S. 7)

Wohl in jedem Menschen findet sich eine mehr oder weniger austarierte Proportion zwischen dem Individuellen und dem Sozialen. „Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften, weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, dass er seinerseits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.“ (I. Kant 1784, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Die Kritiken, Frankfurt/M. 2008, S. 624) Je kleiner der Kreis ist, in dem Personen miteinander kommunizieren, umso stärker wird ihre Individualität eingeschränkt; dafür aber wird dieser kleine Kreis etwas Besonderes, etwas Individuelles und zeichnet sich deutlich gegenüber anderen ab. Wir empfinden solche Situationen stets als etwas eher Privates, wenn der Solist mit einem Orchesterinstrument dialogisiert oder mit einer kleinen Gruppe des Orchesters konzertiert. Unsere Aufmerksamkeit fokussiert sich augenblicklich auf dieses intime akustische Geschehen. Solokonzerte sind soziologisch ein Phänomen, darüber zu reflektieren sollte legitim sein, auch wenn das Thema unter soziologischen Aspekten in dieser „Annäherung“ einen ausgesprochen ideellen Charakter hat.


(S. 226) Eine Gemeinschaft, so lässt sich vielleicht in unserem Fall sagen, entsteht bei der Verwirklichung von durch Kooperation geleisteter Dienste. Die unmittelbare Zusammenarbeit im Orchester und die zielführende Realisierung von Aufführungen im Konzert, in der Oper oder sonstiger in Verbindung mit dem Orchester erfolgenden Veranstaltungen, bewirken eine Vergemeinschaftung, ihre Einheit liegt in dem intendierten Ergebnis, das durch einzelne Musiker nicht hergestellt werden könnte. Derartige Dienste leistet die Gemeinschaft (das Orchester) für die Gesellschaft. Exponierte Aufführungen oder musikalische Veranstaltungen sind in unserem Sprachgebrauch „gesellschaftliche Ereignisse“. Gemeinschaften sind Glieder, soziale Bausteine der Gesellschaft. Der Orchestermusiker ist als Teil der Gemeinschaft die kleinste unteilbare Einheit, eben das Individuum. Im Unterschied zum real agierenden Solisten ist sein Operationsfeld die Gemeinschaft. Der Solist vertritt als handelnde Person, als mehr oder weniger dominanter Charakter, seine Interessen sowohl gegenüber der Gemeinschaft – das wurde zum Beispiel im ersten Satz des Oboenkonzertes, aber auch im Violinkonzert sehr deutlich – wie auch gegenüber der Gesellschaft, etwa durch eine eindrucksvolle Interpretation seines schwierigen Parts. Andererseits aber verschließt er sich in kooperativem Sinne nicht dem Konzertieren mit Gleichgesinnten, etwa wie im Allegretto-Abschnitt des Violinkonzerts.