Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von 
Friedrich Goldmann 

Das Buch erschien 2014 im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad

Nachfolgend einige Auszüge mit Seitenzahlen, Abbildungen und Notenbeispielen, die auf das Buch verweisen.

Annäherung 3 (S. 101-145)

Raum, Zeit, Ort und Bewegung

(S. 102) Raum als kompositorisches Konzept ist nicht neu. Verortungen im Raum der Präsentation, z. B. in der Kirche, finden wir bei den Antiphonen, den Responsorien, der Mehrchörigkeit, wie sie in Venedig in der barocken Festmusik gepflegt und von Andrea und Giovanni Gabrieli zu einem Höhepunkt geführt und die Mehrchörigkeit von deren Schülern Hans Leo Hassler und Heinrich Schütz auch in Deutschland praktiziert wurde. Die Verteilung von mehreren Orchestern im Raum finden wir im 20. Jahrhundert bei K.-H. Stockhausen (Gruppen für drei Orchester, 1957; Carré für vier Orchester, 1960) oder bei Pierre Boulez (Répons, 1981). All diese Kompositionen waren und sind Möglichkeiten, den Präsentationsraum ‘Konzertsaal’ mit seinen akustischen Möglichkeiten zu nutzen.
Ausgangspunkt und Anregung, dieses Kapitel zu schreiben, ist die auffällige, deutlich hörbare kompositorische Raumgestaltung der klanglichen Ereignisse in Friedrich Goldmanns Violinkonzert, im ersten Satz des Oboenkonzertes sowie im Klavierkonzert. (S. 103) Zu unserer Raumdefinition sei gesagt, dass wir uns auf den durch den Ambitus der Orchesterinstrumente erzeugten möglichen Klangraum beschränken und an Beispielen versuchen, deutlich zu machen, wie sich der Klangraum bei Goldmann und in welcher Form von Verortungsbeziehungen darbietet. Uns interessiert die architektonische Räumlichkeit des Musikalisch-Kompositorischen, in der die akustischen Klänge und Figuren sich entfalten. Dieser Raum kann groß und licht sein, scheinbar ereignislos, oder klein und spannungsreich dicht gedrängt, er kann aber auch so weiträumig gefasst sein, dass sich Einzelereignisse darin isoliert verlieren.

Ein anderer Aspekt dieser ‚Annäherung 3‘ ist die Zeit. … Die Begrenztheit des menschlichen Lebens macht Zeit für den Menschen zu einer kostbaren Ressource, denn Raum und Zeit sind der Rahmen, innerhalb dessen er sich bewegt. „Beim Durchlaufen der Raum-Zeit-Pfade ist jedes Individuum diesen constraints, Zwängen und Restriktionen, unterworfen, die die Möglichkeiten des Verhaltens, ihrer Handlungen und Entscheidungen eingrenzen.“ (Schroer: 2006, Räume, Orte, Grenzen, Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M., S. 110) Aber dennoch organisieren wir unseren Raum und unsere Zeit weitgehend aktiv selbst, und in nicht wenigen Fällen hat dieses bewusste Organisieren von Raum und Zeit eine Bedeutung oder wir geben dieser abgegrenzten Begegnung – etwa mit Personen an einem bestimmten Ort, aber auch in einem Kunstwerk, in einer Komposition – eine ganz bestimmte Bedeutung, und sie wird dadurch welthaltig.

Wir wollen die hier zur Diskussion stehenden Konzerte als im Raum vorübergehend verortete Klangobjekte verstehen. (S. 104) Die Klangobjekte verändern sich, bewegen sich im Raum, steigen auf oder ab, vergrößern ihren Umfang (Tonhöhenbereich) oder verdichten sich, ziehen sich zusammen auf ein einziges enges Intervall oder einen einzigen Ton. Dieses Formen respektive „Gestalten geschieht im Abgrenzen als Ein- und Ausgrenzen.“ (Heidegger 2007, Die Kunst und der Raum – L’art et l’espace, Frankfurt/M., S. 5) Wir sehen hierbei Parallelen zu den unterschiedlichen Denkansätzen bezüglich des viel diskutierten „Raum“-Begriffes. Schafft zum Beispiel der Solist die Raumgrenze(n) und das Orchester bewegt sich innerhalb dieser Grenzen (etwa im 1. Satz des Violinkonzertes oder im 1. Satz des Oboenkonzertes) oder ist das Orchester bzw. sind Gruppen des Orchesters a priori im Raum verortet, möglicherweise zusammen mit dem Solisten (wie zu Beginn, der Section 1 des Klavierkonzertes) – und bewegen sich im Laufe des Satzes bzw. der Komposition in verschiedene Richtungen, das ist für uns eine immer wiederkehrende, relevante Frage.

Das aktive Organisieren des Raumes ist stets auch mit der Machtfrage verbunden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) unterscheidet die Gruppen danach, „welcher Zugang zum Raum ihnen möglich ist und wie groß ihre Chancen zur Raumaneignung sind“, während der britische Soziologe Anthony Giddens (geb. 1938) Institutionen danach unterscheidet, „welcher Spielraum Akteuren darin eingeräumt wird, auf ihre eigene Situation einwirken zu können.“ (Schroer 2006, S. 115) (S. 105) Die Begriffe Raum und Zeit implizieren nicht allein die strenge Zuordnung von Zeit zur Musik sowie Raum zur bildenden Kunst; denken wir an Raumakustik, Raumklang oder das im März 2011 im Museum der bildenden Künste Leipzig respektive in den Kunstsammlungen Chemnitz durchgeführte Konzert unter dem Titel „Raummusik“. Auch die vielfältigen gegenwärtigen Kunstformen wie Installationen, Performances, Fluxus oder Happenings brechen tradierte Abgrenzungen auf. Klangliches wie Optisches sind immer Erlebniswelten, sie zu erfassen bedeutet, das eben Gehörte oder Gesehene mit dem zusammenzudenken, was als nächster akustischer oder optischer Reiz auf uns einwirkt, denn erst daraus ergeben sich Formungen: Klanggestalten oder Bilder.

Unser Denken ist nicht geschichtslos, es ist im Laufe von Jahren, Jahrhunderten durch Vorlieben und Überzeugungen vorangetrieben worden auf der Suche nach einer Form des Zusammenlebens, des gesellschaftlichen Miteinanders. Doch muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, dass unser Denken mehr oder weniger „imitatio-basierte Kopierprozesse“ (Sloterdijk 2012, Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt/M., S. 686), Gewohnheiten sind, willkürliche oder kontingente, die also auch in ganz anderen Bahnen hätten verlaufen können. Dehnen wir unseren Zeithorizont in die Vergangenheit aus, dann erkennen wir, dass das, was wir Kultur nennen, kein Zufallsprodukt ist, sondern dass wir uns selbst in einem endlos sich entwickelnden, andauernden Prozess befinden. Je weiter wir unseren Zeithorizont in die Vergangenheit ausdehnen, umso mächtiger werden die Werkzeuge unseres Wissens. Aber dennoch fragen wir nicht in erster Linie woher kommen wir, sondern wohin wollen wir, jedoch ist die Frage nach dem Wohin immer nur stellbar aus dem Kontinuum des Woher, aus unserem Wissen um die geschichtlichen Ereignisse in unserer Vergangenheit. In unserem Denken gehören nach unserem gängigen Zeitverständnis die drei Dimensionen Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft zusammen, unabhängig davon, welches Gewicht wir im Augenblick der einen oder anderen Dimension geben, denn nur so ermöglichen sie überhaupt erst unser Denken.

Jeder von uns hat seine ganz persönliche Vergangenheit, wir tragen sie in unserem Gedächtnis und können sie rekonstruieren, indem wir uns an Vergangenes, an unsere geschichtliche Vergangenheit erinnern. Dieses Durchschreiten von Räumen und Zeitsegmenten, in denen sich immer wieder die Wege verschiedener Individuen, ihre Interaktionen kreuzen und sich an so genannten „ »Stationen« oder bestimmten Raum-Zeit-Orten“ (Giddens 3/1997, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/New York, S. 164) treffen, wo es zu Begegnungen kommt, ist das Stattfinden von sozialen Ereignissen „in Kontexten von Kopräsenz“ (Giddens 3/1997, S. 123), wobei Giddens mit dem Begriff »Kontext« eben „jene Raum-Zeit-»Segmente« oder Raum-Zeit-»Ausschnitte«, in denen Zusammenkünfte stattfinden“, meint (Giddens ebenda) und „in denen sich Interaktionen bündeln und zentrieren“ (Schroer 2006, S. 111).

(S. 106) Wir haben es in diesem Kapitel mit drei wesentlichen Begriffen zu tun, mit dem des Raumes der erklingenden Musik, dem der Zeit (-dauer) in der Komposition und den Bewegungen beziehungsweise Verortungen des Komponierten im Raum sowie der Wechselwirkung des Komponisten mit seiner Umwelt, seiner Lebenssituation, seinem politischen Denken, seiner humanistischen und allgemeinen Bildung etc., also mit der realen Lebenssituation, zu dem „der Inhalt des Kunstwerkes aber diese Fäden abgeschnitten hat und nur seine eigenen Elemente zu selbstgenugsamer Einheit verschmilzt“. (Simmel 2008, Philosophische Kultur, Zur Ästhetik: Der Henkel, Frankfurt, S. 117) „Aus den Anschauungen der Wirklichkeit, aus denen das Kunstwerk freilich seinen Inhalt bezieht, baut es ein souveränes Reich“ und schafft sich „seine Existenz in einem ideellen Raum“ (ebenda).

Oboenkonzert

Wenden wir uns einem kompositorischen Sachverhalt, dem ersten Satz des Oboenkonzertes zu. In relativ grob-schematischer Form sehen die dramaturgischen Raum-Zeit-Ereignisse etwa wie in der Abbildung 1 aus. Natürlich sind Raum und Zeit weitaus gekerbter als hier dargestellt. 

Abbildung 1: Schematische Raum-Zeit-Darstellung im Oboenkonzert, 1. Satz (S. 107 resp. 23, 24)
Die fünf Räume zeigen eine Zeitstruktur von ca. 50–50–20–40–20–10–30 Takten.

Der erste, vom Solisten geschaffene Raum wird begrenzt vom Aktionsradius im Tonumfang von e1 bis d2 (im Takt 8 geht es mit es2 und f2 sogar darüber hinaus). Zwischen den Räumen gibt es sogenannte Brückentöne, in den Takten 23/24 ist es das gis1 im Englischhorn, in den Takten 44-46 ist es das b1, das der Solist von der 1. Orchestertrompete abnimmt (vgl. Abb. 1), im Takt 50 ist es das c3, das die Streicher vom Solisten abnehmen, in den Takten 107-109 ist es das h1, das der Solist vom Englischhorn übernimmt und im Takt 202 ist es das e1 der Violinen I und II unisono. (S. 107) Der erste Satz des Konzertes beginnt in der Solo-Oboe mit dem Ton d2 und endet in der Solo-Oboe mit dem Ton d2, der in der 2. Flöte verebbt, hier allerdings spannungsvoll dissonant in schöner Bach-Manier konfrontiert mit dem des2 in der 3. Trompete.
Was in der grob-schematischen Form oben von Takt 1 bis Takt 50 sich wie ein geschlossener Raum darstellt, muss weiter differenziert werden. In der Tat bläst die Solo-Oboe bereits im zweiten Takt sämtliche Töne des kompletten Modus’ A (vgl. Annäherung 1) und schafft damit einen entsprechenden Klangraum oder wenn man will, einen Kommunikationsraum, zumindest aber schafft sie ein räumliches Arrangement (vgl. Abb. 2 im Buch), auf deren Wirksamkeit sie ihre ersten Einsätze ausrichtet. Doch der Raum, in dem die Orchesterinstrumente verbleiben, ist enger begrenzt. Beginnend im Takt 3 ist dieser enge Raum dann im Takt 7 dicht ausgebaut und der Teilmodus Aß aufgefüllt: d2- cis2- h1- b1- as1, er wird weitergeführt vom Takt 9 (mit dem Diminuendo des d2 in der Solo-Oboe) und reicht zunächst bis Takt 24 mit dem Brückenton gis1/as1 im Englischhorn. Goldmann schafft – um die Differenz deutlich zu machen – zwei unterschiedlich strukturierte Räume, den Raum des die abgesteckten Grenzen auslotenden Solisten mit filigraner Zeitstruktur und den eher statisch, wie ein hingestellter, gefüllter Klangcontainer wirkenden engeren Raum der Orchesterinstrumente.

(S. 115) Zwischen den Takten 79 bis 85 verdichten sich die Wechsel der vertikalen Klangkomplexe, verschiedene Raumordnungen von unterschiedlicher Raumweite und unterschiedlicher, relativ kurzer Zeitdauer wechseln einander ab. Ein ähnliches Abwechseln und Verdichten des Raumes bis hin zur vollständigen Verwendung der Modi A und B erfolgt im Takt 131. (S. 117) … Werke „existieren nicht nur in einem Raum-Zeit-Kontinuum, sondern sie erschaffen ihren je eigenen Ausschnitt des Raum-Zeit-Kontinuums. Als Niederschlag einer ästhetisch-kreativen Erkenntnis reflektieren sie die Bedingungen, unter denen Phänomene in Raum und Zeit hervorgebracht werden, und zeigen sie beispielhaft an sich vor. Philosophisch ausgedrückt: Musikalische und bildnerische Werke organisieren und exemplifizieren das neben und nacheinander der Dinge“ (Peres 2007, Kandinsky, Leibniz und die RaumZeit, in: Phänomen Zeit, Spektrum der Wissenschaft Spezial, Heidelberg, S. 207).

Der amerikanische Kunstphilosoph Nelson Goodman prägte für den Umstand, dass schöpferische Werke beispielhaft Eigenschaften der Wirklichkeit an ihrer eigenen Gestalt zeigen, etwa Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sie also an sich selbst exemplarisch vorführen, den Begriff der ‚Exemplifikation‘; sie ist „eine wichtige und vielverwendete Weise der Symbolisierung innerhalb und außerhalb der Künste.“ (Goodman 1995, Sprachen der Kunst, dtsch. v. B. Philippi, Frankfurt/M., S. 59) „Gleichwohl ist Zeigen oder Exemplifizieren ebenso wie das Denotieren eine Referenzfunktion; und Bilder werden unter ganz ähnlichen Gesichtpunkten erwogen wie die Begriffe und Prädikate einer Theorie: auf ihre Relevanz und die Aufschlüsse hin, die sie geben; auf ihre Kraft und ihre Angemessenheit – kurz, ihre Richtigkeit.“ (Goodman 1984, Weisen der Welterzeugung, dtsch. v. M. Looser, Frankfurt/M., S. 33) Für ihn hat z. B. eine musikalische Komposition „keinen anderen Gegenstand als ihr klangliches Geschehen, ihre rhythmische Ordnung eines Zeitablaufs mit spezifischen ästhetischen Qualitäten.“ (Peres 2007, S. 86) Es geht dabei „um das Treffen feiner Unterscheidungen und das Entdecken subtiler Beziehungen, das Identifizieren von Symbolsystemen und von Charakteren innerhalb dieser Systeme und das Identifizieren dessen, was diese Charaktere denotieren und exemplifizieren; es geht dabei um das Interpretieren von Werken und die Reorganisation der Welt mit Hilfe der Werke und der Werke mit Hilfe der Welt.“ (Goodman 1995, S. 223) (S. 118)

Bevor wir uns noch einmal der Bedeutung respektive der Deutung der Begriffe ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ widmen, wollen wir uns einem Phänomen im ersten Satz des Oboenkonzertes zuwenden, dass einen anderen Blick auf die Raumvorstellungen erfordert. Es ist nicht die Positionierung an einem bestimmten Ort im Raum, wie wir es bei den Streichern oder Bläsern gesehen haben, sondern es sind die überlagerten, zeitunterschiedlichen Pulse der fünf Schlagzeuge, die dem Raum Impulse geben, bestimmte Zeitfenster (Takt 123-127 etc.) strukturieren und scheinbar das gesamte orchestrale Geschehen auf eine überschaubar komplexe rhythmische Basis stellen (wollen). In ihrer dichtesten Schichtung in abnehmender Form, sich also zunehmend dehnend, finden wir die Pulse z. B. im Takt 126/127:

Abbildung 11: Überlagerung unterschiedlicher Pulse der fünf Schlagzeuge, Takt 126/127 (S. 118)

Natürlich kommt dieses rhythmische Paradigma nicht als plötzlicher Einbruch in den formalen Ablauf des ersten Satzes; es wird zunächst fast unmerklich vorbereitet ab Takt 63: die Einsätze der Solo-Oboe sowie der fünf Blechbläser werden jeweils von den fünf Schlagzeugen ganz ohne Vorschläge akzentuiert; ein Gleiches geschieht ab Takt 78. Eigenständige Aufgaben übernehmen die Schlagzeuge zunächst bis Takt 122 nicht. Erst im dritten Einsatz werden ab Takt 123 dann die rhythmischen Modellteile, jetzt erstmals sogar mit 1-5 Vorschlägen, relativ schnell eingeführt. Auch hier gehen die Einsätze der Schlagzeuge mit denen der Solo-Oboe und Blechbläser einher, dreifach akzentuieren sie mit den Vorschlägen, dem Markato-Akzent sowie einem sfz wiederum die Einsätze der Solo-Oboe und der drei Trompeten und zwei Posaunen. (S. 119)

Notenbeispiel 3: Schlagzeug und Solo-Oboe Takt 123-127. (S. 119).

Das quasi krebsgängige Pendant zum Takt 126 findet sich in den Takten 133/134, exakt an der dramaturgisch kritischsten Stelle des ersten Satzes, der Öffnung in die unendlichen Weiten des Orchesterklangraumes. In den Takten 193 bis 200 hat dieser Raum dann mit 48 Tonhöhen vom h3 bis Kontra D, den Modi A-E und der chromatischen Tonfolge ab Kontra A bis Kontra D, seine größte Ausdehnung erfahren (vgl. Abb. 1).
Die Bläser im Orchester – im Gegensatz zu den Streichern, die die „Masse“ stellen – sind in der Regel Individualisten, wenn sie nicht gerade chorisch eingesetzt werden. Goldmann hebt diesen Unterschied im ersten Satz auf, er teilt die ersten und zweiten Violinen in je 4 kleine Gruppen (T. 50 ff.), die Bratschen und Violoncelli in je 3 Soli (ab T. 80), auch die Kontrabässe sind ab T. 100 solistisch eingesetzt. Das ermöglicht ihm die Darstellung von Aktionen im Raum durch verschiedene sehr qualifizierte Gruppen sowohl in den Bläsern als auch in den Streichern und im Schlagzeug. Die für uns spannenden Fragen sind die nach den Konsequenzen der Raumerweiterung und nach Goldmanns Denkweise bezüglich des Raumes. Ist der Raum für ihn ein „Behälter“, oder entsteht Raum für ihn durch die kreativen Aktionen der Orchestergruppen … (S. 121) „… Alles, was ist, bildet ein Raum-Zeit-Kontinuum. Einfache Entitäten wie auch komplexe Dinge sind durchgängig miteinander vernetzt. Der Wahrnehmung ist diese Wirklichkeit nicht zugänglich. Der Mensch erfasst sich selbst und seine Umgebung als bloße Phänomene in Raum und Zeit. Doch dieses Nebeneinander von Gegenständen wie das Nacheinander von Ereignissen entsteht als kognitive Leistung. Raum und Zeit sind Ordnungsbegriffe für unsere phänomenale Welt.“ (Peres 2007, S. 86)

Auf die Kunst angewendet, würde uns diese Einsicht zu der Erkenntnis führen, dass musikalische und bildnerische Werke nicht nur in einem Raum-Zeit-Kontinuum existieren, sondern ihren je eigenen Ausschnitt des Raum-Zeit-Kontinuums erschaffen. „Als Niederschlag einer ästhetisch-kreativen Erkenntnis reflektieren sie die Bedingungen, unter denen Phänomene in Raum und Zeit hervorgebracht werden, und zeigen sie beispielhaft an sich vor. Philosophisch ausgedrückt: Musikalische und bildnerische Werke organisieren und exemplifizieren das Neben- und Nacheinander der Dinge.“ (Peres ebenda)
Dient die Raumerweiterung im ersten Satz des Oboenkonzertes, was die Höhe betrifft, zur Selbstdarstellung des Solisten, zur Präsentation seiner Fähigkeiten, seiner Virtuosität und seiner Kraft, oder hat es möglicherweise eher etwas mit Herrschaft und Souveränität zu tun, um seine Dominanz in seiner Leistung herauszustellen, was im Solokonzert ja legitim wäre? Doch gleichzeitig dehnt sich die Raumerweiterung zur Tiefe hin noch stärker aus als die zur Höhe, was natürlich den Instrumenten geschuldet ist. Für die Solo-Oboe ist b – h3 ein erstaunlicher Drei-Oktaven-Umfang, der im ersten Satz jedoch nur ab e1 genutzt wird. (S. 124)

Trotz allen Argumentierens bezüglich des Virtuosentums im Oboenkonzert (was ja eher auf eine traditionelle Komponente innerhalb dieser Gattung hinweisen würde) und der Raumerweiterung im ersten Satz des Oboenkonzertes lässt sich möglicherweise auch ein anderer Hintergrund vermuten, etwa ein brisanter gesellschaftspolitischer: die Öffnung des Raumes als musikalisches Exempel für die gesellschaftliche und politische Situation (Goldmanns) in der DDR und seine ausgeprägte Vorstellung von – in des Wortes ureigenster Bedeutung – grenzenloser Freiheit, einer Freiheit, die ihm erlaubt, seine künstlerischen Ideen mit Gleichgesinnten in der Welt auszutauschen. Sollte das nämlich die Intention gewesen sein, dann wird uns umso mehr interessieren, was Goldmann mit dem nahezu unerschöpflichen, zur Zeit der Entstehung noch geträumten Raum anfängt, den er ab Takt 131 im ersten Satz des Oboenkonzertes kreiert, wie er ihn strukturiert und ausfüllt, nachdem er ihn determiniert hat, oder wie er ein Raum-Zeit-Kontinuum mit den größeren und kleineren Orchestergruppen gestaltet; dabei stets eingedenk der Worte Schopenhauers, dass wir beim Zuhören von Musik dem Hang verfallen seien, in unserer Phantasie „allerhand Scenen des Lebens und der Natur darin zu sehen“ und dass es besser sei, „sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen“. (Schopenhauer 2009, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zur Metaphysik der Musik, Köln, S. 829)
Andererseits muss man sich aber auch klar darüber werden, „dass nicht nur der Kopf in der Welt sondern auch die Welt in unserem Kopf ist“. (Safranski 2010, Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? München, Wien, S. 73) Denn „wir sind Welterzeuger; wir erzeugen beständig ›neue Welten aus alten‹. Was wir sehen, wahrnehmen, berühren, alles ist im Fluss, den wir selber schaffen. Das wirkliche psychologische Problem besteht darin, auf welche Weise wir ihm Gestalt geben und wie wir in ihm manövrieren.“ (Putnam 1988, Vorwort zu: Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt/M. S. Xf.)

In der Tat scheinen ab Takt 137 konzertierte Aktionen oder vielleicht besser konzertierende Aktionen abzulaufen, die wie Kommunikationen zwischen den Gruppen ineinander greifen, sich ablösen, den Raum als kreativen Akt hervorbringen oder, was unserem landläufigen Verständnis von Raum als Behälter näher liegt, sich des Raumes spielend, also konzertierend bemächtigen, ihn mit Aktionen an unterschiedlichen Orten besetzen. Die Verdichtung der Aktionen in der Zeit, eingeleitet von der Solo-Oboe ab T. 137, mit ihren kleinen Dauernwerten (Sechzehntel als Grundmaß) und komplizierten Zeitstrukturen, ihren fragilen Rhythmen, greifen auf die Orchestergruppen über. (S. 127) Der Handlungsgroßraum von Takt 131 bis 171 (40 Takte), ein für diesen Abschnitt des ersten Satzes des Oboenkonzertes gewissermaßen entgrenzter Raum, in dem sowohl Entzerrung von Raum und Zeit als auch Verdichtung charakteristisch sind, lässt … erahnen, dass wir es mit Verortungen im Raum zu tun haben, die kaum noch deutlich auseinander zu halten sind, die sich permanent auflösen und an anderer Stelle neu bilden, die quasi „vagabundierende Grenzen“ (Schroer 2006, S. 274) errichten. Mit dieser Zunahme von räumlichen Bezügen verliert sich die Eindeutigkeit der Grenzen. Die teilweise Fragmentierung und Zersplitterung, Überschneidung und Überlagerung scheint zu einer „weitreichenden Flexibilisierung und Verflüssigung des ehemals Unbeweglichen und Starren“ (Schroer 2006, S. 272) zu führen. Vor allem das Internet trägt heute dazu bei, den Raum so aufzufassen, dass er erst durch soziale Praktiken erzeugt wird. Es sind also Räume, die es nicht schon immer gibt, sondern die erst durch Aktivitäten, durch Kommunikation hervorgebracht werden. Ein derartiges Raumverständnis birgt erhebliche Konsequenzen für alle gesellschaftlichen Ebenen.

 
Klavierkonzert

(S. 132) Wir haben gesehen, dass Goldmann im ersten Satz seines Oboenkonzertes den Raum quasi kontinuierlich in drei Stufen erweitert hat, um zur größten Ausdehnung zu kommen. Ganz anders verhält es sich – nicht zuletzt wohl auch aufgrund seines komplett anderen Formansatzes – in dem zeitnah entstandenen Klavierkonzert. Goldmann zeigt in diesem Konzert in eindrucksvoller Weise das Kompositionsgenetische, scheinbar fernab jeder formenhaften Festigkeit. Und doch lebt hier deutlich die überlieferte Vorstellung „vom nach außen begrenzten, innen gefüllten Raum fort“ (Funken/Löw, Ego-Shooters Container in: Maresch/ Werber, Raum, Wissen, Macht, Frankfurt, S. 76). Die von Goldmann verorteten musikalischen ZeitRäume sind Struktur und sie sind Teil der Großform, doch ihre Funktion ist es, die Strukturen erst zu bilden.
(S. 133) Goldmann teilt das Klavierkonzert formal in acht unterschiedliche Sectionen:
1. Section – allegro molto
Fünf Abschnitte bilden die erste Section, dabei wird jeder Abschnitt von einem statischen Klang in extrem tiefer Tonlage dominiert: 

Notenbeispiel 13: Klavierkonzert, 1. Section, Die Klänge der fünf Abschnitte.

Abbildung 17 (S.133): Section 1 (T. 1-61).

(S.134) Mit diesem Ort (innerhalb des gesamten Klangspektrums des Orchesters) korrespondiert das Instrumentarium: 2 Fagotte, Kontrafagott; 3 Posaunen, Tuba; Pauken, Schlagwerk; Kontrabässe. …

(S. 144) Das Kunstwerk „vergleicht sich selbst mit vorausgegangener Kunst, sucht und gewinnt Abstand, zielt auf Differenz, schließt etwas aus, was als möglich schon vorhanden ist. Dadurch definiert es seinen Stil oder seine Stilzugehörigkeit“ (Luhmann 2008, Schriften zu Kunst und Literatur, 2. Ist Kunst codierbar? 6. Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, Frankfurt/M., S. 168) Und es ist der Eigenwert der Kompositionen respektive der Kunstwerke allgemein, der dem Stil sein historisches Gewicht gibt. Wie groß der Beitrag Friedrich Goldmanns für die Musikgeschichte ist, wird erst die fernere Zukunft zeigen. „Die Temporalstruktur des Stils selbst, seine Mikrozeit, ermöglicht es, den Aufbau zu fördern oder dem Abbau zu trotzen, avantgardistisch oder nostalgisch zu operieren und die ganze Qualität des einzelnen Kunstwerks für solche Stilpolitik in die Waagschale zu werfen.“ (Luhmann 2008, S. 169) Nicht selten haben Kunstwerke Voraussignale gesetzt, die in der Retrospektive wie Prognosen gedeutet werden können. Wie Goldmanns Musik in der Zeit ihrer Entstehung gewirkt hat, wissen wir einigermaßen, aber ganz sicher hat sie sehr viel zur Qualifizierung der Musikkultur seiner Zeit und seines Ortes beigetragen, dieses Verdienst bleibt ihm unbestritten.